Die Website zum Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 wird nicht mehr aktualisiert, steht aber bis auf weiteres als Nachlese zur Verfügung.
Seitenpfad
Ihre Position: Oesterreich100.at - 1938
Inhalt

1938 – Der "Anschluss" und das Novemberpogrom

Der Verfassungsbruch

Seit der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland Anfang 1933 stieg der Druck eines "Anschlusses" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland erheblich an. Der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß benützte eine Geschäftsordnungskrise des Nationalrates, um durch Verfassungsbruch die parlamentarische Demokratie abzuschaffen und sowohl Nationalsozialisten als auch Sozialdemokraten zu bekämpfen. Die NSDAP erfuhr seit 1932 auch in Österreich immer mehr Zustimmung in der Bevölkerung und verübte gleichzeitig zahlreiche Terrorattentate (mit insgesamt über 800 Verwundeten und 150 Toten bis 1938), sodass sie am 19. Juni 1933 verboten wurde. Die Sozialdemokratische Partei strich aufgrund der NS-Politik am 30. Oktober 1933 den traditionellen "Anschluss-Paragraphen" aus ihrem Parteiprogramm. Seit der Republiksgründung 1918 hatte sie wie auch andere Parteien den "Anschluss" an eine demokratische Republik Deutschland gefordert. Durch die Friedensverträge war der "Anschluss" aber von den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkrieges verboten worden.

Die Zerstörung der Demokratie

Nach einem kurzen aber blutigen Bürgerkrieg im Februar 1934 wurde auch die Sozialdemokratische Partei verboten. Bei einem missglückten Putschversuch der NSDAP starben im Juli 1934 Kanzler Dollfuß sowie 100 weitere Personen auf Regierungsseite.

Noch stützte das faschistische Italien unter Benito Mussolini bis Anfang 1936 die Souveränität Österreichs. Kurt Schuschnigg setzte als Nachfolger Dollfuß‘ den autoritären Kurs der Kanzlerdiktatur fort, forcierte aber mit dem Juli-Abkommen 1936 einen Ausgleich mit Deutschland und den österreichischen Nationalsozialisten. Gleichzeitig wollte Schuschnigg die staatliche Unabhängigkeit erhalten, aber Hitlers Ziel war die Zerschlagung Österreichs und der Tschechoslowakei, um entsprechende Rüstungsressourcen und zusätzliche Divisionen für einen Aggressionskrieg in Europa aufstellen zu können.

Die Volksbefragung für ein unabhängiges Österreich

Selbst eine erzwungene Integration nationalsozialistischer Minister in die Regierung Schuschniggs im Februar 1938 sollte den stetig steigenden Druck nicht reduzieren. Schuschnigg entschloss sich daher – unterstützt von Vertrauensleuten der ehemaligen sozialdemokratischen Gewerkschaften, revolutionären Sozialisten und Kommunisten – am 9. März zur Ankündigung einer Volksbefragung "Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich!" für den 13. März 1938.

Der "Anschluss" an Hitler Deutschland

Bereits am Tag darauf erteilte Hitler den Befehl zum Einmarsch und am 11. März trat Kurt Schuschnigg um 19:47 Uhr mit einer Rundfunk-Rede mit der Kernaussage, dass das Bundesheer keinen Widerstand leisten solle, zurück. In allen Landeshauptstädten kam es schon in dieser Nacht zu einem "Anschluss von Innen“. Unmittelbar nach Mitternacht ernannte Bundespräsident Wilhelm Miklas, der unter massivem Druck stand, am 12. März den bisherigen nationalsozialistischen Innenminister Arthur Seyß-Inquart zum Bundeskanzler. Um 5:30 Uhr marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein – ohne auf Widerstand zu treffen, ganz im Gegenteil. Am Nachmittag folgte Adolf Hitler und wurde in der weiteren Folge von einem derartigen Jubel bis Linz begleitet, dass er die ursprünglichen Pläne – zwei Staaten und ein gemeinsamer Kanzler – in Richtung sofortigem Anschluss änderte, der am 13. März erfolgte. Schon zwei Tage später, am 15. März 1938, verkündete Adolf Hitler vor über 200.000 jubelnden Menschen am Heldenplatz den "Anschluss“ Österreichs an das "Deutsche Reich“.

Antisemitismus und politische Verfolgung

Bereits zuvor hatten brutale Verfolgungsmaßnahmen gegen politische Gegner des Nationalsozialismus, Juden und Jüdinnen begonnen. Insgesamt wurden über 70.000 Menschen in den ersten sechs Wochen nach dem "Anschluss“ verhaftet, und am 1. April begannen die Transporte in das Konzentrationslager Dachau. Gleichzeitig kam es immer wieder zu Plünderungen von jüdischem Vermögen und zu symbolischen Pogromen: Jüdinnen und Juden wurden in sogenannten "Reibpartien“ gezwungen, auf den Knien die Parolen für die Volksbefragung Schuschniggs von den Straßen zu waschen. Die Plünderung von Vermögen wurde rasch von NSDAP-Behörden übernommen und intensiviert ("Arisierungen“). Dadurch sollten möglichst viele Österreicherinnen und Österreicher, die wegen ihrer jüdischen Herkunft rassistisch stigmatisiert wurden, zur Auswanderung gezwungen und gleichzeitig möglichst viel Vermögen eingezogen werden. Nur Mexiko protestierte sofort im Völkerbund gegen den "Anschluss", der durch eine manipulierte Volksabstimmung am 10. April sanktioniert wurde.

Die "Volksabstimmung" über den "Anschluss"

Diese Abstimmung wurde als öffentliche Abstimmung unter massivem Druck und intensivster Propaganda durchgeführt, um eine hohe Zustimmung zu erzwingen, die mit 99,73 Prozent Ja-Stimmen auch erreicht wurde. Rund acht Prozent der Bevölkerung (Juden, inhaftierte politische Gegner) waren von der Abstimmung ausgeschlossen. In Deutschland wurde ebenfalls über den "Anschluss" abgestimmt und eine Zustimmung von 99,01 Prozent erzielt. Auch prominente Persönlichkeiten hatten sich für die NS-Propaganda instrumentalisieren lassen wie beispielsweise der ehemalige sozialdemokratische Staatskanzler Karl Renner, die österreichischen Bischöfe und prominente Künstlerinnen und Künstler.

Der Schriftsteller Carl Zuckmayer hatte den "Anschluss" 1938 in Wien erlebt und ihn 1966 in seinen Erinnerungen als "Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch" bezeichnet: "Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem, hasserfülltem Triumph. […] Ich erlebte die ersten Tage der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen."

Das Novemberpogrom 1938

Der gelenkte "Volkszorn"

Zwei Tage nach dem tödlichen Revolver-Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst von Rath in Paris durch den 17-jährigen Polen Herschel Grynspan, dessen Eltern von den Nazis deportiert worden waren, inszenierte das NS-Regime am 9. November 1938 eine "spontane Racheaktion" der Bevölkerung gegen Juden und Jüdinnen. In der "Ostmark" war dieser gelenkte "Volkszorn", der auch von Gestapo, NSDAP-Parteistellen, SS und SA unterstützt bzw. aktiv geduldet wurde, besonders brutal.

Das Pogrom in Wien

Allein in Wien brannten in der Nacht vom 9. und 10. November 1938 bis auf die Synagoge in der Seitenstettengasse (deren Innenraum aber verwüstet wurde) 42 Wiener Synagogen und Bethäuser nieder. 27 Wiener Juden wurden getötet und 88 schwer verletzt, 2.000 Wohnungen beschlagnahmt und 4.000 Geschäfte geplündert oder zerstört. Über 6.500 Wiener Jüdinnen und Juden wurden willkürlich verhaftet und rund 4.000 von ihnen in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.

Die Pogrome in den Bundesländern

In Innsbruck ermordeten SS- bzw. SA-Männern 4 Juden, eine Frau beging aus Verzweiflung über die Pogrome Selbstmord. In Salzburg wurde die Synagoge demoliert und jüdische Geschäfte geplündert. In Graz gab es etliche Verhaftungen, und Jüdinnen und Juden wurden in ihren Wohnungen geschlagen. SA-Männer zündeten die Synagoge in Linz an, Geschäfte wurden dort allerdings keine geplündert, da es keine mehr mit jüdischen Eigentümern gab. In Klagenfurt wurde die Synagoge geplündert und zerstört, die Bibliothek verbrannt. Auch in Niederösterreich kam es zu Plünderungen von Synagogen, Bethäusern und Privatwohnungen sowie zu vielen Verhaftungen. Im Burgenland wurden fast ausschließlich Synagogen zerstört, da bereits fast alle Juden vertrieben waren.

Die Inszenierung der "spontanen Racheaktion"

Aus zahlreichen Einzelanweisungen von NS-Parteistellen wird klar, dass diese Aktion als kontrollierte Sühneaktion von Oben verstanden wurde , an der eine große Anzahl von SS- und SA-Leuten aktiv involviert war und die Feuerwehren Brände nur bei Gefahr für umliegende Gebäude löschen durften.

Die Folgen des Novemberpogroms

Der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels prägte aufgrund des Ausmaßes der Zerstörungen den zynisch-euphemistischen Begriff "Reichskristallnacht", der von dem brutalen Pogromcharakter ablenken sollte. Im gesamten nationalsozialistischen Einflussbereich gab es als Folge des Pogroms über 1.400 Todesopfer aufgrund von Mord oder Selbstmord, 1.400 Synagogen und Bethäuser – rund die Hälfte des Gesamtbestandes – wurden zerstört.

Damit begann eine weitere Brutalisierung der Verfolgung und Ausplünderung von Jüdinnen und Juden. Hermann Göring verfügte als zuständiger Beauftragter für den Vierjahresplan sofort eine schon länger geplante "Judensteuer" als "Sühneabgabe" und intensivierte die Ausplünderung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung.

Link:
Privatfilm, der unmittelbar nach dem Novemberpogrom 1938 in Wien gedreht wurde