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Von Tag zu Tag 1917 bis 1919

1. Februar 1919

Karikatur über die 1919 aus Energiemangel frühen Lokalschließzeiten
"Um 8 Uhr geht der Gasober schlafen und stellt den Karbidpikkolo in den Dienst"; © Kikeriki vom 3. Oktober 1919

Am 1. Februar 1919 berichtete das Deutsche Volksblatt über die mittlerweile für 9 Uhr abends verordnete Lokalsperrstunde in Wien. Der Text über die Streifzüge durch die winterlich-kalte Wiener Nacht heute vor genau 100 Jahren ist ein sehr lebendiges und spannendes Stimmungsbild:

"Ein Schrei der Entrüstung und des Entsetzens entfuhr den Wirtshausfreunden, als die Neunuhrsperre amtlich proklamiert wurde. Nur ein kleines Häuflein Allgetreuer schwieg, denn in dem Kreise der unnachgiebigen und eisernen Charaktere fand man es selbstverständlich und natürlich, daß von einer Trennung infolge 'Zeit' keine Rede sein konnte. Man ging einfach den nächsten Tag früher ins Gasthaus, um die geraubte Stunde einzubringen. Die Zeit war gewonnen, die Gemütlichkeit blieb verloren. Es will kein rechtes 'Leben' mehr aufkommen, alles ist still, gedrückt, sittsam brav, förmlich ängstlich. Freilich wirkt oft auch die rechte Seite der Speisekarte lähmend auf die Unterhaltung und macht manchen Gast sprachlos. Lauter geht es nur ab und zu noch in der Schwemme her, besonders wenn einige Krieger ihre Freude der Heimkehr bei teurem Weine äußern. Sie trinken, lassen wieder einschenken, sie nötigen fremde Tischnachbarn zum Anstoßen und Lebenlassen, animieren durch Lieder ohne Worte zur Lustigkeit, versuchen sich in einen Taumel der Freude zu versetzen, kommen aber bald zur Überzeugung, daß die Heiterkeit oft ebenso unecht wie der Wein und der lang ersehnte Friede ist. In den Kaffeehäusern der Vorstädte herrscht Stimmungsarmut. In den kalten, matt beleuchteten Lokalen lauern spärlich einige Gäste. Unter Frieren sollen sich die Armen für einen der vielen neuen Kandidaten aus den Spätabendblättern erwärmen? Die Kassierin gähnt, der Markör gähnt, schließlich gähnen auch die Gäste. Das Kaffeehaus schließt zu einer Zeit, in welcher es früher erst seine Gäste erwartet hat. Nun steht man auf der Straße. – Das Licht der nur vereinzelnd müde flackernden Gaslaternen sickert durch den kalten Nebel. Die kotigen Straßen und Gassen sind wie ausgestorben. Die Straßenbahngleise liegen verödet. – Großstadtruhe. – Ab und zu löst sich ein Wachmann aus einem Torbogen, unter dessen Schutz er auf nächtliches Wild gelauert hat. Gleichmäßiger Schritt eines Postens der Stadtschutzwache ist vernehmbar. An der Ecke stößt man auf einzelne Dämchen. Hüstelnd bieten sie Liebe feil. Vereinzelt stapfen Männer und Frauen mit schweren Rucksäcken beladen, durch das Dunkel. Aber auch vielen scheu um sich blickenden Gestalten mit aufgeschlagenem Kragen, den Hut in die Stirne gedrückt und die Hände in den Hosentaschen vergraben, begegnet man. – Menschen ohne Nachtlager. – Kinder der Straße. – Die Gefahr von Wien. – Um 11 Uhr liege ich zu Hause in meinem Bette und denke darüber nach, wo sich wohl die vielen entsprungenen Sträflinge aufhalten mögen. – Auch der Name Breitwieser kreuzt meine Gedanken.“

Links:
Wiener Streifzüge. Nachtleben. (Deutsches Volksblatt vom 1. Februar 1919)
Heute vor 100 Jahren: Franz Breitwieser (6. April 1918)
Weiterlesen: Die Höchstleistung im Verbrechen (Neues Wiener Tagblatt vom 5. Jänner 1919)

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