Die Website zum Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 wird nicht mehr aktualisiert, steht aber bis auf weiteres als Nachlese zur Verfügung.
Seitenpfad
Ihre Position: Oesterreich100.at - Von Tag zu Tag 1917 bis 1919
Inhalt

Von Tag zu Tag 1917 bis 1919

1. November 1918

Oberleutnant Egon Erwin Kisch und Infanterist Leo Rothziegel als Gründer der Roten Garden
Wien im November 1918: Oberleutnant Egon Erwin Kisch (links) und Infanterist Leo Rothziegel (rechts) als Gründer der Roten Garden; © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

Am 1. November fand in Drehers Gasthof in der Wiener Landstraßer Hauptstraße 97 (heute ein Einkaufszentrum) die Gründung der "Roten Garden" statt. Die von Korporal Stefan Haller (eigentlich: Bernhard Förster), Infanteristen Leo Rothziegel und Oberleutnant Egon Erwin Kisch gegründete radikale Wehrformation strebte eine Rätediktatur nach russischem Vorbild an, bestand ursprünglich aus etwa 200 Mann und quartierte sich in der Wiener Stiftkaserne ein. An ihrem Gründungstag marschierte die Rote Garde auf der Wiener Ringstraße auf, wobei es vor dem Deutschmeister Denkmal am Wiener Schottenring zu einer lebhaften Kundgebung kam. Unter den Rednern befanden sich nicht nur Haller und Kisch, sondern auch der Schriftsteller Franz Werfel. Alma Mahler, ab 1919 Werfels Ehefrau, beschrieb den Dichter, als er eines Abends nach Hause kam und ihr begeistert von seinen revolutionären Reden erzählte: "Seine Augen schwammen in Rot, sein Gesicht war gedunsen und er starrte vor Schmutz, seine Hände, seine Montur… alles war zerstört. Er roch nach Fusel und Tabak." (in: Daniel Schönpflug, Kometenjahre. 1918: Die Welt im Umbruch, Seite 120)

Das Neue 8 Uhr-Blatt berichtete über die Versammlung der Rotgardisten am Deutschmeisterplatz: "3 Uhr nachmittags begann auf dem Deutschmeisterplatz die Versammlung der 'Roten Garde'. In das vordere Relief des Deutschmeisterdenkmals war eine rote Fahne gesteckt worden, vor der die Redner sprachen. Es hatten sich aber nicht mehr als ungefähr zweihundert Soldaten eingefunden. Die Zivilisten wurden von den Ordnern der Roten Garde, die eine rote Binde am Arm trugen, auf den Ring verwiesen. Auch zahlreiches Wacheaufgebot war bemerkbar. Die Redner waren Mannschaftspersonen, die Abzeichen der Roten Garde, einen roten Streifen auf Arm oder Kappe trugen. Die Versammlung nahm stellenweise einen erregten Verlauf. Der erste Redner, ein Soldat, führte etwa folgendes aus: Wir wollen keine Räuber, Mörder und Plünderer sein, weil dabei nur zwecklos Werte vernichtet werden. Aber wir wollen Beschlag auf die von den Kapitalisten gestohlenen Güter legen, damit sie wieder der Allgemeinheit zugutekommen. Wir sind von keinem Parteivorstand, auch nicht von den Sozialdemokraten, abhängig. Wir sind die Rote Garde des Proletariats und gehorchen nur dem Volke. Proletarier im Waffenrock! Wer für die Rote Garde ist, erhebe die Rechte […] Während diese Rede teils mit Beifall aufgenommen wurde, machte sich bei dem andern Teil der Zuhörer eine entschiedene Mißstimmung gegen den Eintritt in einen Soldatenrat bemerkbar, da hauptsächlich die älteren Soldaten erklärten, mit einem Soldatenrat nichts zu tun haben zu wollen, sondern lieber möglichst bald wieder in Frieden zu ihrer Familie kommen wollen."

Heeresminister Julius Deutsch versuchte die Rote Garde in die Volkswehr zu integrieren, um sie unter Kontrolle zu bringen, was aber nur teilweise gelang. Am 12. November 1918 sollten die Rotgardisten besonders spektakulär in Erscheinung treten, als sie die Proklamation der Republik für die Ausrufung einer Räterepublik nutzen wollten. Dabei zerrissen sie die rot-weiß-roten Fahnen, sodass vor dem Parlament nur die zusammengeknoteten roten Streifen gehisst werden konnten. Die 1919 auf 700 Mann angewachsene Rote Garde blieb bis zu ihrer Auflösung im Sommer 1919 ein latenter Unruheherd im Heer der jungen Republik.

Links:
Eine Versammlung der "Roten Garde" (Neues 8 Uhr-Blatt vom 2. November 1918)
Weiterlesen: Literaten träumen die Revolution
Weiterlesen: Norbert Christian Wolf, Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19, Böhlau Verlag 2018

Alle Einträge anzeigen: Von Tag zu Tag