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Von Tag zu Tag 1917 bis 1919

15. Oktober 1918

Reichsratsabgeordnete treffen zu Beratungen mit Kaiser Karl über die Zukunft der Monarchie in Baden bei Wien ein
Reichsratsabgeordnete treffen zu Beratungen mit Kaiser Karl über die Zukunft der Monarchie in Baden bei Wien ein; © Neuigkeits-Welt-Blatt vom 15. Oktober 1918

"Die Parteiführer beim Kaiser" titelte das Neuigkeits-Welt-Blatt am Dienstag den 15. Oktober 1918. Tatsächlich waren 32 Vertreter verschiedener Parteien der österreichischen Reichshälfte am samstags zuvor nach Baden bei Wien geladen worden, wo sich in den letzten Kriegsmonaten am heutigen Hauptplatz 17 – damals Kaiser Karl-Platz – die kaiserliche Residenz befand. Tschechische und südslawische Politiker boykottierten dieses Treffen allerdings. Die Besprechungen drehten sich um die politische Reorganisation der österreichischen Reichshälfte, da die Mittelmächte, darunter auch Österreich-Ungarn, am 4. Oktober 1918 das 14-Punkte Programm des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson akzeptiert hatten. Für das Habsburgerreich war vor allem das von Wilson geforderte Selbstbestimmungsrecht der europäischen Nationen problematisch. Noch glaubte Kaiser Karl daran, dass sich das Selbstbestimmungsrecht der polnisch-, tschechisch-, ukrainisch-, slowenisch-, italienisch-, ladinisch- und deutschsprachigen Volksgruppen innerhalb des österreichischen Teils der Monarchie – unter anderem mit der Schaffung eines "Völkerministeriums" – verwirklichen lassen würde:

"Der vergangene Samstag war ein für die innere Politik Oesterreichs historischer Tag. Im Rahmen der großen Wendung, vor der Oesterreich in seiner Zusammensetzung steht, erschien eine Anzahl der politischen Parteiführer vor dem Monarchen, um ihm ihre Ansichten und Meinungen über die Zukunft der Völker kundzugeben und den Kaiser mit den Hoffnungen bekanntzumachen, die die einzelnen Volksstämme Oesterreichs an die jetzt geplanten Reorganisationen im Staat knüpfen […] Mit der Südbahn fuhren die Parteiführer bei strömendem Regen nach Baden, wo sie sich in der am Franzensring gelegenen, vom Marquis Villasecca erbauten Villa versammelten. Von dort aus brachten Automobile die Politiker in die Kaiservilla am Kaiser Karlplatz, wo die Audienzen stattfanden. Die Automobile sollten die Herren vom Bahnhof abholen, waren aber infolge eines Mißverständnisses zur erwähnten Villa gefahren, so daß die Ankommenden die erste Wegstrecke zu Fuß zurücklegen mußten. Der Direktor der kaiserlichen Kabinettskanzlei Dr. R. von Seidler geleitete dann die Politiker in das Arbeitszimmer des Kaisers, wo in fünfstündigen Audienzen alle die hochbedeutsamen Fragen erörtert wurden, die derzeit die Gesamtheit Oesterreichs bewegen."

Tatsächlich kam die Initiative Kaiser Karls zu spät. Die Annahme von Wilsons 14 Punkte – vom Interessanten Blatt wenig später als "Harakiri" bezeichnet – beschleunigte bloß den Zerfall des Vielvölkerstaats (Das interessante Blatt vom 14. November 1918). Am Tag der hochrangigen Konferenz in Baden betrachtete die Arbeiterzeitung die politische Situation wesentlich nüchterner und realistischer als der Kaiser:

"[…] soll man es auch hier versuchen, eine parlamentarische Regierung, ein 'Völkerministerium' zu bilden, das Vertreter aller Nationen umfassen würde und darum im Namen aller Nationen sprechen könnte? Aber das geht gar nicht; aus dem sehr einfachen Grunde nicht, weil Tschechen, Südslaven, Polen keine solche Regierung bilden, in keine österreichische Regierung mehr eintreten wollen, weil sie eben dem österreichischen Staat überhaupt nicht mehr zugehören, ihre eigenen Nationalstaaten bilden wollen! Keine Macht der Welt kann diese Tatsachen ändern. Kein Staatsstreich von oben und keine Revolution von unten könnte eine österreichische Regierung hervorbringen, die von allen Nationen das Mandat zu Friedensverhandlungen bekäme, weil viele Nationen eben überhaupt Oesterreich nicht mehr wollen, sich als Bürger Oesterreichs nicht mehr fühlen, jeder österreichischen Regierung, wie immer sie aussähe das Recht, ihre Sache zu führen, absprechen. Das ist die nackte, brutale Tatsache, die, ob man sich ihrer nun freut oder ob man sie beklagt kein Einsichtiger mehr leugnen kann. Darum kann Wilson eine österreichisch-ungarische Regierung, die nach seiner Auffassung und seinen Grundsätzen zu Friedensverhandlungen berechtigt wäre, nicht finden [...] Es werden also vielleicht überhaupt nicht Vertreter der k.u.k. Regierung zum Verhandlungstisch kommen, sondern nur Vertreter der Tschechen, der Südslaven, der Polen, der Ungarn und so weiter. Und wenn wir Deutschösterreicher bei den Verhandlungen nicht unvertreten bleiben wollen, dann müssen wir uns eben auch als Nation konstituieren und unsere eigenen Vertreter zum Friedenskongreß entsenden. Die österreichisch-­ungarische Regierung hat den Krieg erklären können; aber ob sie auch noch berufen sein wird, Frieden zu schließen, ist durchaus nicht gewiß."

Links:
Günstige Friedensanzeichen (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 15. Oktober 1918)
Wer soll die Friedensverhandlungen führen? (Arbeiter-Zeitung vom 12. Oktober 1918)

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