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Von Tag zu Tag 1917 bis 1919

2. April 1918

Wien-Josefstadt 1905: Das Landesgericht
Wien-Josefstadt 1905: Das Landesgericht; © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

Der Allgemeine Tiroler Anzeiger berichtete am 2. April 1918 über das vom Abgeordnetenhaus erlassene Gesetz über die "Tilgung der Verurteilung", das am 21. März 1918 in Kraft getreten war. Der Grund für dieses Gesetz war, dass eine Strafe oft ein Leben lang nachwirken konnte und, dass besonders bei Delikten, die in der öffentlichen Meinung als entehrend galten, die Verurteilten in ständiger Angst vor dem Bekanntwerden ihrer Verurteilung leben würden:

"Es kann jemand, der in seiner Jugend einen Diebstahl begangen hat, nach Jahrzehnten wegen Ehrenbeleidigung oder Wachebeleidigung angeklagt werden — dann wird er, wenn er vor den Richter kommt, sofort gefragt: 'Haben Sie schon eine Vorstrafe?' Und der Mensch fühlt sich, trotzdem er als Angeklagter zur Wahrheit nicht verpflichtet ist, seine Jugendsünde zu offenbaren. So wirkt die Strafe in vielen Fällen für das ganze Leben — etwas, was sie nicht soll."

Das Gesetz bestimmte folgendes: "Strafen, die nicht langer als ein Jahr gedauert haben, gleichgültig ob Arrest- oder Kerkerstrafen, werden nach einer bestimmten Zeit getilgt. In der Regel tritt diese Tilgung nur ein, wenn die Strafe die erste Strafe im Leben des Verurteilten war und wenn er seit der Verurteilung nicht neuerdings gestraft wurde. Ist jedoch die Verurteilung nicht die erste und nicht die letzte gewesen, so kann trotzdem die Tilgung ausgesprochen werden, wenn die früheren oder späteren Strafen wegen Handlungen verhängt worden sind, die geringfügig waren und nicht aus ehrloser Gesinnung beruht haben. […] Auch Verurteilten, die mehr als ein Jahr im Kerker verbracht haben, kann die Tilgung zugute kommen, aber nur dann, wenn sie wegen einer Handlung bestraft worden sind, die das Gesetz als politische Handlung erklärt. Diese Handlungen sind folgende: Hochverrat, Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe, Ausstand, Aufruhr und öffentliche Gewalttätigkeit gegen ein Amtsorgan, sofern das Verbrechen auf politischen Motiven beruht, Gewalttätigkeit gegen eine Behörde, Tötung oder schwere Körperverletzung bei einer Schlägerei, falls nicht festgestellt werden konnte, wer die schwere Verletzung zugefügt hat."

Die Tilgung musste vom Gericht ausgesprochen werden, hing aber nicht nur vom Verhalten des Verurteilten ab, sondern es musste auch die geschädigte Person zur Versöhnung bereit sein: "Eine Bedingung der Tilgung ist es aber, daß der seinerzeit Verurteilte den durch die Tat verursachten Schaden nach Kräften gutgemacht hat. Bei Eigentumsdelikten oder bei Körperverletzungen bedeutet diese Gutmachung für den seinerzeit Verurteilten natürlich ein Geldopfer. Es ist darauf zu achten, daß nicht unbedingt der Schaden ersetzt sein muß. Man muß ihn nur 'nach Kräften' gutgemacht haben. Hat man keine 'Kräfte' zum Gutmachen, so kann dies natürlich nicht eintreten. Ob man den Schaden nach Kräften gutgemacht hat, hat das Gericht zu entscheiden. Ein armer Teufel, der sich nach der Verurteilung anständig aufgeführt hat, wird also, wenn er die Tilgung anstrebt, zu dem, der seinerzeit den Schaden erlitten hat, gehen, ihm auseinandersetzen, daß er sich jetzt die ganze Zeit sittlich verhalten habe und ihn bitten, eine Bestätigung zu geben, daß er auf weiteren Schadenersatz verzichte. Eine solche Bestätigung beweist wohl, daß der Schaden nach Kräften gutgemacht wurde. Ist der seinerzeit Geschädigte zu einer solchen Bestätigung nicht bereit, dann muß derjenige, der die Tilgung anstrebt, eben suchen, einen Ausgleich mit dem Geschädigten zu treffen, und über diesen Ausgleich eine Bestätigung verlangen, die er dann dem Gericht vorlegt. Ist die Verurteilung getilgt, so ist der seinerzeit Verurteilte unbescholten."

Die Tilgung konnte nur eintreten, wenn die Verurteilung die erste war: "Diese Bestimmung ist aber nur anzuwenden, wenn der Betreffende bloß ein einzigesmal verurteilt wurde. Hat er zwei Strafen, und sei die eine noch so geringfügig, so gilt diese Bestimmung nicht."

Heutzutage gelten für die meisten Haft- und Geldstrafen gesetzlich festgelegte Tilgungsfristen. Nur Verurteilungen zu lebenslangen Freiheitsstrafen und Verurteilungen wegen Sexualstraftaten zu mehr als fünf Jahren Haft werden nicht getilgt und schließen die Tilgung anderer Verurteilungen aus.

Link:
Tilgung der Verurteilung (Allgemeiner Tiroler Anzeiger vom 2. April 1918)
Weiterlesen: RIS – Gesetz über die Tilgung der Verurteilung vom 21. März 1918

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