Nachdem Kaiser Karl in seinem "Völkermanifest" vom 16. Oktober 1918 die Gründung eines Bundesstaates auf dem Gebiet der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie verkündet hatte, befasste sich das ganze Land mit den verschiedenen damit verbundenen Fragen, seien es die Grenzziehungen, die Zukunft der polnischen Gebiete oder die prinzipielle Frage nach dem Trennenden und dem Gemeinsamen, so auch das Neuigkeits-Welt-Blatt vom 20. Oktober 1918:
"Namentlich die Mitteilung der Siedlungsgebiete der einzelnen Volksstämme, die wir aus unserm gestrigen Titelbild in anschaulicher Weise darstellten, wird mit dem größten Interesse verfolgt und ebenso beschäftigt man sich jetzt allgemein mit dem Wesen der Volksstämme überhaupt. Das äußerliche Bild derselben läßt sich nun zweifellos nicht besser darstellen als durch typische Figuren in der Tracht der bäuerlichen Bevölkerung der betreffenden Nationen. Die Kleidung in allen großen Städten ist zu sehr von der Weltmode beherrscht, um das Typische des betreffenden Volksstammes zum Ausdruck zu bringen. Anders die Bauerntracht. An ihr erkennt man leicht die Nation, der ihr Träger angehört, und so sehen wir Repräsentanten der vier großen, neuzuschaffenden Staaten auf unserm heutigen Titelbild dargestellt, und zwar Deutsche, Südslawen – die auf unserm Bild durch ein slowenisches Paar verkörpert sind – Ruthenen (Ukrainer) und Tschechen. Sie und vielleicht auch noch andere, wie die Italiener, Polen usw., sollen ihren selbständigen Staat erhalten, aber doch vereint sein unter der Oberhoheit des Hauses Habsburg."
Das Wort "Tracht" war ursprünglich eine allgemeine Bezeichnung für jegliche Bekleidung, die auf den althochdeutschen Begriff "draht(a)" zurückgeht, der "das, was getragen wird" bedeutet. Lokale Volkstrachten entwickelten sich ab dem 15. Jahrhundert in ländlichen Gebieten und waren unter anderem beeinflusst von lokal verfügbaren Materialien und den regional verschiedenen Arten diese zu verarbeiten.
Die Entstehung der "traditionellen" Trachten geht auf den im 19. Jahrhundert beginnenden Nationalismus zurück, als sich Angehörige verschiedener Volksgruppen auch äußerlich von den jeweils anderen abgrenzen beziehungsweise sich innerhalb der eigenen Gruppe bestätigt sehen wollten. Nach 1918 erlebte die Trachtenmode in der auf den alpinen Raum konzentrierten Republik Österreich einen großen Aufschwung und wurde von praktisch allen gesellschaftlichen Kreisen (vor allem in der Sommerfrische) getragen. Nach dem "Anschluss" 1938 untersagten die nationalsozialistischen Machthaber in einer ihrer ersten Ausgrenzungsmaßnahmen jüdischen Österreicherinnen und Österreichern das Tragen von Trachtenmode.
Der in letzter Zeit vor allem in Deutschland und Österreich wieder auflebende Brauch zu verschiedenen Gelegenheiten (Fantasie-)Trachten zu tragen, wird unter anderem als Abwehrreaktion auf die Globalisierung, auf Wirtschaftskrisen und die damit zusammenhängende Sehnsucht nach "der guten alten Zeit" erklärt.
Links:
Selbstständig und doch vereint! Repräsentanten der vier großen, neuzuschaffenden Staaten in Österreich (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 20. Oktober 1918)
Heute vor 100 Jahren: Das Völkermanifest (18. Oktober 1918)
Weiterlesen: Die neue Lust am Dirndl (Neue Zürcher Zeitung vom 10. Jänner 2014)