Das zu Monatsbeginn noch Undenkbare wurde in der zweiten Oktoberhälfte des Jahres 1918 immer wahrscheinlicher: der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nach Zustimmung zu den 14 Punkten des amerikanischen Präsidenten Wilson und seiner Friedensnote an die Regierung der Vereinigten Staaten am 4. Oktober, erließ Kaiser Karl am 16. Oktober das "Völkermanifest", um den Nationen auf dem Gebiet der österreichischen Reichshälfte Gelegenheit zu bieten autonome Staaten unter der Oberhoheit Habsburgs zu bilden, wie in Punkt 10 des 14-Punkte-Programms gefordert. Die polnische Volksgruppe sollte selbst über die weitere Zugehörigkeit zur Monarchie oder den Anschluss an den wieder erstandenen polnischen Staat entscheiden. Die österreichische Außenpolitik erwartete, dass diese Maßnahmen zu einem Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen führen würden. Allerdings wurden alle Hoffnungen mit der Antwort Wilsons auf das österreichische Friedensangebot zerstört. Die Antwortnote vom 18. Oktober 1918 gelangte über die neutrale schwedische Gesandtschaft nach Wien und erreichte am 22. Oktober auch die Zeitungsredaktionen, die entsetzt reagierten. Die Vereinigten Staaten gingen auf den Wunsch nach einem Waffenstillstand mit keinem Wort ein, anerkannten die Tschechoslowakei als "de facto kriegsführende Regierung" und hielten hinsichtlich der südslawischen Volksgruppen fest, "dass sie und nicht er [Wilson] Richter darüber sein sollen, welche Aktion auf Seiten der österreichisch-ungarischen Regierung die Aspirationen und die Auffassung der Völker von ihren Rechten und von ihrer Bestimmung als Mitglieder der Familie der Nationen befriedigen wird."
Aufgrund des "Völkermanifests" hatten sich in Prag, Zagreb und Lemberg zu diesem Zeitpunkt bereits Nationalräte gebildet, die allerdings gar nichts von einer "autonomen" Entwicklung innerhalb der Habsburgermonarchie wissen wollten und die vollständige Unabhängigkeit forderten. In Wien konstituierte sich am 21. Oktober eine provisorische Nationalversammlung Deutsch-Österreichs, die ihre Sitzung am 22. Oktober fortsetzte. Das Kommende warf ebenfalls seine Schatten voraus, denn am 22. Oktober trafen erstmals die Landeshauptleute der damals 7 Bundesländer zusammen (Wien gehörte noch zu Niederösterreich und das Burgenland war noch im Entstehen), um an der "Liquidierung des bisherigen" und am "Neuaufbau des neuen Staatswesens" mitzuwirken. Das Neuigkeits-Welt-Blatt sprach vom 21. Oktober 1918 als dem "Geburtstag von Deutschösterreich". Den sich vor den Augen der Zeitgenossen abspielenden Zerfall des Vielvölkerreichs beschrieb das Blatt am 22. Oktober mit deutlichen Worten:
"In Prag hat gestern der dort tagende 'Narodni Vybor' (tschechischer Nationalrat) einen Beschluß veröffentlicht, mit dem erklärt wird, daß der 'Narodni Vybor' und mit ihm das gesamte tschechische Volk ohne Ausnahme unverbrüchlich auf dem Standpunkt beharren, daß es mit Wien für das tschechische Volk keine Verhandlungen über seine Zukunft gibt. Die böhmische Frage hat aufgehört, eine Frage der inneren Regelung Oesterreich-Ungarns zu sein […] Nachdem die Entschließung sich in scharfer Weise über die angebliche Bedrückung der Slowaken in Ungarn ergeht, verspricht sie 'nie national und kulturell eine zweite Nationalität im tschecho-slowakischen Staat zu bedrücken' (eine Versprechung, durch die die Deutschen in Böhmen geködert werden sollen) und fordert die ganze tschecho-slowakische Nation zum Ausharren bis zur Erreichung des höchsten Zieles: eine glückliche Zukunft des freien tschecho-slowakischen Volkes, auf […] Ein Beschluß des gestern gefaßten südslawischen Nationalrates in Agram [Zagreb] fordert einen einheitlichen südslawischen Nationalstaat auf allen Territorien, wo Slowenen, Kroaten und Serben wohnen, ohne Rücksicht auf staatliche oder provinziale Grenzen. Die Trennung Galiziens von Österreich soll durch eine einzusetzende Liquidierungskommission durchgeführt werden. Der Krakauer Magistrat hat als ausschließliche Amtssprache die polnische Sprache erklärt."
Links:
Die Zerreißung Oesterreichs (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 22. Oktober 1918)
Eine Erklaerung der Landeshauptleute (Innsbrucker Nachrichten vom 23. Oktober 1918)