Am 25. Dezember 1918 berichtete das Neue Wiener Journal über (nach-)kriegsbedingt zunehmenden Ehescheidungen:
"Die durch das Kriegsende hervorgerufene Steigerung der Ehescheidungsprozesse, die sich nach der Rückkehr der Kriegsgefangenen aus Italien und Sibirien noch weiter erhöhen dürfte, hat eine merkwürdige, aber notwendige Begleiterscheinung hervorgerufen: Die Versöhnungsversuche en masse. Da es bei dem stetigen Anschwellen der Ehescheidungsklagen beim Zivillandgericht undurchführbar ist, daß die vorgeschriebenen Versöhnungsfahrten einzeln im Bureau des Vorsitzenden vorgenommen werden, wurde die Einrichtung getroffen, daß eine größte Anzahl von Ehescheidungswerbern gleichzeitig in einen der großen Säle versammelt werden, wo dann mit ihnen der vorgeschriebene, ohnehin nur eine Formalität bedeutende Versöhnungsversuch in der Weise vorgenommen wird, daß an alle Paare die gemeinsame Frage gerichtet wird, ob eine Versöhnung möglich sei. Auf diese Weise werden oft 40 bis 80Paare gleichzeitig zur Versöhnungsfahrt versammelt, und da alle mit dem Entschlusse zur Versöhnungsfahrt gehen, sich nicht zu versöhnen, ertönt auf die Frage des Vorsitzenden, bei Anwesenheit von 80 Paaren, ein hundertsechzigstimmiges 'Nein!' die Antwort. Dann wird die Protokollierung über die 'Aussichtslosigkeit des Versöhnungsversuches' vorgenommen und die Paare werden auf die auszuschreibende mündliche Verhandlung verwiesen. Der Eherechtsreformverein hat unter Anführung dieser 'Versöhnungsversuch en masse' den Nationalrat neuerdings auf die Notwendigkeit der sofortigen Inangriffnahme der Eherechtsreform aufmerksam gemacht."
Ein besonders prominenter Fall war im Dezember 1918 die Scheidung der Anna Kaff, geborene Reumann:
"Mit Rücksicht auf das gegenwärtig den Frauen eingeräumte aktive und passive Wahlrecht ist eine eben gefallene Gerichtsentscheidung von besonderem Interesse. Mit dieser Entscheidung wird ausgesprochen, daß die Vereinstätigkeit der verheirateten Frau einen Ehescheidungsgrund bildet, weil sie durch ihre politische Tätigkeit – im vorliegenden Falle spielen Gatte und Gattin im politischen Leben eine Rolle – ihren Pflichten als Hausfrau entzogen werde. Der Schriftsteller Siegmund Kaff brachte beim Zivillandesgericht einverständlich mit seiner Gattin Anna Kaff, geborene Reumann, einer Tochter des Abgeordneten und Vizebürgermeisters Jakob Reumann, eine Klage auf Trennung der Ehe wegen unüberwindlicher Abneigung ein. Diese wird von dem Ehegatten damit begründet, daß seine Frau seine Autorität nicht wahre. Auch habe sie so lange sie mit ihm lebte, die Hauswirtschaft vernachlässigt, wenn sie die Flucht in die Öffentlichkeit des Vereinslebens ergriffen habe. Die Gattin ihrerseits gab an, daß ihre heitere Gemütsart zu dem ernsten Wesen ihres Mannes nicht passe. Ihre Vereinstätigkeit könne ihr als einer im politischen Leben tätigen Frau nicht als Vernachlässigung ihrer Hausfrauenpflichten angerechnet werden. Nach Einvernehmung mehrerer Zeugen, darunter des Vaters der Gattin Jakob Reumann, sprach das Ziviltrauungsgericht die Trennung der Ehe aus dem Verschulden beider Ehegatten aus. Das Verschulden des Mannes wurde mit seinem allzu schroffen Vorgehen gegenüber der Frau, das Verschulden der Frau damit begründet, daß sie durch ihre Vereinstätigkeit ihre Pflichten als Hausfrau verletzt habe."
Anna Kaff war die Tochter des späteren Wiener Bürgermeisters Jakob Reumann und war so wie ihr Vater seit ihrer Jugend politisch aktiv. Nach ihrer Scheidung von Siegmund Kaff heiratete sie ihren Jugendfreund Julius Grünwald, den sie bereits während des Ersten Weltkrieges im Rahmen der Gewerkschaftskommission kennengelernt hatte und nahm dessen Namen an. Neben ihrer politischen Tätigkeit, verfasste Anna Grünwald Texte und Artikel für sozialdemokratische Zeitungen, etwa für Die Frau oder Die Unzufriedene. Am 25. Juni 1931 starb sie überraschend an Herzversagen.
Links:
Massenscheidungsprozesse beim Zivillandesgericht (Neues Wiener Journal vom 25. Dezember 1918)
Die politische Tätigkeit der Frau – ein Ehescheidungsgrund (Illustrierte Kronen-Zeitung vom 24. Dezember 1918)
Weiterlesen: Anna Grünwald (Nachruf in Die Frau vom 1. August 1931)