"Gelegentlich der Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse im Wiener Gemeinderat, wobei außer einer größeren Anzahl Sozialdemokraten auch einige Vertreter der Freiheitlichen, sowie auch einige Frauen in die Stadtvertretung berufen werden, wird auch Frau Anitta Müller in den Wiener Gemeinderat eintreten. Frau Anitta Müller hat sich mit ihrer großzügigen Aktion zugunsten der Flüchtlingsfrauen und -Kinder große Verdienste erworben und gilt heute als die populärste jüdische Frau Wiens. Ihr Eintritt in den Gemeinderat wird daher in den weitesten Kreisen mit großer Genugtuung begrüßt. Sie wird dort ein neues Feld für ihre segensreiche soziale Tätigkeit finden", wie die Jüdische Korrespondenz am 28. November 1918 berichtete.
Anitta Müller kümmerte sich während des Ersten Weltkriegs im Rahmen ihrer "Sozialen Hilfsgemeinschaft Anitta Müller" um jüdische Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina. Nach Kriegsende setzte sich ihr Engagement fort, da den zahlreichen jüdischen Flüchtlinge aus dem Osten der ehemaligen Monarchie auf dem Territorium des neuen deutsch-österreichischen Staates die Rückkehr nach Galizien vor allem aus Sicherheitsgründen versperrt blieb. Denn immer wieder wurde von Pogromen berichtet, von denen eines der grausamsten von polnischen Legionären am 21. und 22. November 1918 in Lemberg verübt wurde. Eine Reihe von Augenzeugenberichten und Reportagen über das Pogrom, das bis zu 350 Menschenleben forderte, erschienen in den folgenden Tagen in zahlreichen europäischen und amerikanischen Zeitungen (siehe untenstehende Links).
Anitta Müller-Cohen kam 1890 in Wien als Anitta Rosenzweig zu Welt und wandte sich angesichts jüdischer Flüchtlingsschicksale nach 1918 der zionistischen Bewegung zu. Ende November 1918 wurde sie in den Wiener Gemeinderat kooptiert und 1919 als Kandidatin der freiheitlich-bürgerlichen Wählerliste auch in den Wiener Gemeinderat gewählt. Ende 1935 konnte sie sie mit ihrer Familie nach Palästina auswandern, wo sie sich während des Zweiten Weltkriegs wieder der Flüchtlingshilfe widmete und sich besonders für jüdische Flüchtlinge aus Österreich einsetzte. Seit 5. Juni 2018 ist der Müller-Cohen-Platz in Wien-Leopoldstadt nach ihr benannt.
Links:
Frau Anitta Müller – Wiener Gemeinderat (Jüdische Korrespondenz vom 28. November 1918)
Schreckliche Judenmetzeleien in Lemberg (Jüdische Korrespondenz vom 28. November 1918)
Ein furchtbarer Judenpogrom in Lemberg. Schilderung eines Augenzeugen (Neue Freie Presse vom 27. November 1918)
A Record of Pogroms in Poland; Massacres Began in Lemberg, According to Documents Received Here, and Spread over Country (New York Times vom 1. Juni 1919)
Weiterlesen: Pogrome in Polen 1918–1920 und 1945/46 Auslöser, Motive, Praktiken der Gewalt (Wiener Wiesenthal Institut für Holocauststudien, PDF)