Da es im Oktober 1918 in der ungarischen Reichshälfte bei einem Besuch Kaiser Karls zu Kundgebungen gegen das Abspielen der Volkshymne gekommen war, sah sich die Neue Freie Presse am 28. Oktober 1918 dazu genötigt, einen Feuilleton-Beitrag über Entstehung und Geschichte des aus Sicht der Zeitung übernationalen Wesens der Hymne zu veröffentlichen. Der Beitrag war mit "A. Bm." gezeichnet und dürfte auf Auguste Wilbrandt-Baudius (und die mit ihr bekannten und 1916 verstorbenen Marie von Ebner-Eschenbach) verweisen:
"Vor 121 Jahren wurde zur Ueberraschung von Kaiser Franz am 12. Februar 1797 im Hoftheater und gleichzeitig in allen anderen Theatern Wiens und der Provinzen die Volkshymne zum erstenmal gesungen. Ihr Urheber, nicht bloß ihr musikalischer Schöpfer war Josef Haydn. In London war er Zeuge des Eindrucks gewesen, den das 'God save the king' auf die Massen übte: deshalb regte Vater Haydn nach seiner Heimkehr an, den Landsleuten ein gleiches, allen gemeinsames Lied zu stiften. Der Minister Graf Saurau billigte den Gedanken, für den Text sorgte der Exjesuit Haschka auf Bestellung der Regierung, die Weise schuf Haydn im Januar 1797. Jünger als die Marseillaise, das Lied vom Prinzen Eugenius, der Rakoczimarsch, gewann Haydns Volkshymne vom ersten Augenblick an die Herzen aller. […]
Seit Hoffmann v. Fallersleben 1841 seine Verse 'Deutschland, Deutschland über alles' derselben Haydnschen Melodie unterlegte, ist sie zugleich die verbreitetste Nationalhymne des Deutschen Reiches geworden. Sie war (nach dem Zeugnis der Zeitgenossen) Haydns Lieblingswerk. […] Und als nach Thronbesteigung Franz Josefs Johann Gabriel Seidl den Text abzuändern berufen ward, fand er nicht minder schlicht und überzeugend das Biegungswort : 'Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!' Ein Gebet, in dem der Geringste und Höchste, reich und arm, der Analphabet und der auf dem Gipfel aller Bildung stehende Forscher sich begegnen können. Wann und wo immer die Volkshymne laut wurde, vernahm man den Herzschlag Altösterreichs."
Ganz persönlich vermerkte die Feuilletonistin, die möglicherweise ein Erlebnis Marie von Ebner-Eschenbachs schilderte:
"Von Kind auf ist uns die Volkshymne dauerhafter und wirksamer als Ministerprogramme, Manifeste, Parteiproklamationen und Kammerreden der Ausdruck reines Heimatgefühls. Ein unscheinbares Erlebnis mag das für meine Person bezeugen; ähnliches werden Tausende und Tausende in der Fremde bei ähnlichen Anlässen erlebt haben. Vor vierzig Jahren hatte ich mich mit archivalischen und Bibliothekstudien so müde gearbeitet im New Reading Room des Britischen Museums, daß ich mir einen kleinen Ausflug nach Shakespeares Geburtsort vergönnte. Zum erstenmal auf dem durch unzählige Erinnerungen geweihten Boden von Stratford-on-Avon wanderte ich durch den Geburtsort des größten Dichters aller Völker und Zeiten; die Weiden des Flusses weckten das Andenken an Desdemonas Lied, jeder Fußbreit bis zum nahen Schloß des gräflichen Freundes Shakespeares gab dichterische und geschichtliche Perspektiven, nichts stand mir in jenem Augenblick ferner als das Bild der Heimat. Da kamen unversehens czechische Wandermusikanten des Weges, die munter, mitunter ziemlich falsch, deutsche Weisen anstimmten, Schubertsche Märsche und zuletzt Haydns Volkshymne. Mir wurde warm in den Augen. Das hinreißendste Preislied auf Oesterreich hätte mich nicht mächtiger überwältigen können. So groß war die Wirkung der einfachen Melodie."
Mit dem Zerfall der Monarchie, war auch die Kaiserhymne obsolet. Und so entstanden nach 1918 neue Hymnen: Zwischen 1920 und 1929 diente die "Renner-Kienzl-Hymne" inoffiziell als Bundeshymne, und bis 1938 wurde erneut zur Haydn-Melodie das Lied "Sei gesegnet ohne Ende" von Ottokar Kernstock gesungen. Während des Nationalsozialismus galt das Deutschlandlied Hoffmann von Fallersleben als offizielle Hymne Hitler-Deutschlands und wurde meistens zusammen mit der nationalsozialistischen Parteihymne, dem Horst-Wessel-Lied, gesungen.
Während Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der Bundeshymne einen radikalen Schnitt vollzog – seit 1947 wird zu einer Melodie, die Paul Wranitzky zugeschrieben wird, der Text "Land der Berge, Land am Strome" von Paula Preradović gesungen – hielt Deutschland an der Haydn-Melodie fest, wobei allerdings nur mehr die dritte Strophe des Deutschlandlieds dazu gesungen wird.
Links:
Die Kundgebung gegen die Volkshymne (Neue Freie Presse vom 28. Oktober 1918)
Weiterlesen: Die Kaiserhymne (deutsche Originalversion, Tondokument)
Weiterlesen: Die Kaiserhymne (die bis 1918 gültige tschechische Version, Tondokument)
Weiterlesen: Die Renner-Kienzl-Hymne (Tondokument)