"Wir haben eine Regierung gebraucht. Heute wurde sie gebildet." (Die Neue Freie Presse über die Ereignisse in Wien am 30. Oktober 1918)
Am 21. Oktober 1918 konstituierte sich im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse die Provisorische Nationalversammlung Deutsch-Österreichs, die aus den Reichsratsabgeordneten der deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte der Monarchie bestand. Die Grundlage dafür bildete das "Völkermanifest" Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, das die Volksgruppen Cisleithaniens dazu aufforderte Nationalräte zu bilden, um den Staat auf Grundlage der Selbstbestimmung der Völker zu föderalisieren.
Das "Völkermanifest" hatte aber eine ganz andere Wirkung als von der kaiserlichen Regierung intendiert und beschleunigte sogar den Zerfall der Monarchie: Am 28. Oktober erklärte sich die Tschechoslowakei für unabhängig, am 29. Oktober folgten die Südslawen mit einer Unabhängigkeitserklärung im kroatischen Sabor in Zagreb und am 30. Oktober wurde in Wien die provisorische Verfassung von Deutsch-Österreich angenommen sowie ein Staatsrat unter Vorsitz Karl Renners eingerichtet, der die Regierungsgeschäfte des neuen Staates bis zur Abhaltung der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 führen sollte.
An diesem 30. Oktober 1918 versammelten sich in der Wiener Herrengasse vor dem Niederösterreichischen Landhaus Tausende Menschen, die großteils für die die Republik demonstrierten. Die Vertreter der politischen Parteien traten immer wieder auf den Balkon und hielten Reden und informierten die Menge über die Vorgänge im Landhaus. Wie die Tageszeitungen am nächsten Tag berichteten, kam es an den verschiedensten Orten zu republikanischen Kundgebungen, die bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Die Neue Freie Presse berichtete tags darauf über den denkwürdigen Tag:
"Der neue Staat hatte noch einen anderen, besonders wichtigen Erfolg. Der Tag ist trotz der großen Ansammlung von Menschen ruhig, ohne wesentliche Störungen verlaufen. Hie und da mochte es aufsprühen und ein bewegter Augenblick war, als eine militärische Abordnung in das Landhaus kam und mancherlei Erinnerungen sich regten. Das ist vorübergezogen: eine der größten Umwälzungen, die jemals stattgefunden hat, ist in Ordnung durchgeführt worden. Vom Balkon des Landhauses sprachen die Abgeordneten zum Volke. Ein Strom gemeinsamer Empfindungen hat sie verbunden und die Erregung war nach so vielen Leiden der fünfzig Monate in den Gemütern. Die Männer und Frauen, die gekommen waren, die Geburtsstunde des neuen Staates zu begrüßen, hatten jedoch die Erkenntnis, daß die im Staatsrate und in den Staatssekretären veranschaulichte Notwendigkeit, die Krise gemeinsam zu überwinden, als Pflicht auf die Gasse getragen werden müsse. Die Nationalversammlung beriet im Landhause und Meldungen verbreiteten sich im Saale, daß die Armee nach einer großen Schlacht die besetzten Gebiete von Italien räume. Gerüchte wurden bekannt, daß die amerikanische Flotte gegen Triest heranrückt und daß die Stadt besetzt werden solle. Wenn es geschehen würde, könnte die Maßregel andeuten, daß Triest vielleicht in einer neuen Form bei Oesterreich bleiben und durch den Frieden nicht verloren gehen werde. Diese Meldungen und diese Gerüchte sind ein Zeichen, daß wir uns dem Ende des Krieges nähern. Wer durch ihn leidet, für seine Angehörigen bangt, den Hunger nicht stillen kann oder sonst durch seine Wirkungen niedergebeugt wird, muß fühlen, daß in diesem bedeutungsvollen Augenblick nichts geschehen dürfe, was den neuen Staat in den Augen der Feinde herabsetzen, das Ansehen schädigen und nach innen das Elend noch vermehren würde. Der heutige Tag hat gezeigt, wie stark die Erziehung zur Öffentlichkeit in Wien fortgeschritten ist […] Morgen übernimmt der Staatsrat die Verwaltung in sämtlichen Gebieten, wo die Deutschen in der Mehrheit sind. Er hat die Befehlsgewalt über die deutschen Truppen und ist der Träger der aus der Selbständigkeit hervorgehenden Rechte des Volkes. Er bestellt die Staatssekretäre und ihm gehorchen die Behörden. Er spricht im Namen der Deutschen von Oesterreich zu den feindlichen und zu den neutralen Völkern und will den Frieden im Einvernehmen mit dem Deutschen Reiche schließen, weil für ihn das Bündnis fortbesteht. Wie merkwürdig die Anpassung des Volkes ist. Veränderungen, die einem Märchen gleichen, wie die Befehlsgewalt über die Truppen, werden hingenommen, und in einigen Wochen dürften die jetzigen Verhältnisse durch die Gewohnheit wie selbstverständlich scheinen, obgleich sie eines der größten historischen Ereignisse sind. Wir haben eine Regierung gebraucht. Heute wurde sie gebildet."
Links:
Gründung des neuen Staates unter großer Teilnahme des Volkes. Ruhiger Verlauf der Straßenkundgebungen (Neue Freie Presse vom 31. Oktober 1918)
Heute vor 100 Jahren: Das Völkermanifest Kaiser Karls (18. Oktober 1918)
Weiterlesen: Aufruf des deutschösterreichischen Staatsrates an die Bevölkerung vom 30. Oktober 1918 (Fremden-Blatt vom 31. Oktober 1918)