Wie tief das obrigkeitsstaatliche Denken in der Habsburgermonarchie verwurzelt war, zeigt die Behandlung eines tragischen Unglücks in Wagna (Bezirk Leibnitz, Steiermark) in den heimischen Zeitungen. Im September des Jahres 1917 war im Flüchtlingslager Wagna während einer Demonstration unabsichtlich ein italienisches Kind von einem Gendarmen erschossen worden (siehe Von Tag zu Tag – Heute vor 100 Jahren vom 4. Oktober 1917).
Angeklagt wurde jedoch nicht der Gendarm, der den tödlichen Schuss angegeben, sondern jener Mann, der die Demonstration verursacht hatte. Am 8. Jänner 1918 berichtete das Neue Wiener Tagblatt über den aufsehenerregenden Prozess in Graz. Vor Gericht stand der 25jährige Maurer und Lagerinsasse Anton Golesich. Die Anklage lautete öffentliche Gewalttätigkeit. Golesich war im Oktober 1917 wegen seiner Epilepsie vom Militär entlassen worden und hatte bei seiner Rückkehr in das Flüchtlingslager seine Zivilkleider zurückverlangt. Daraufhin wurde er dem Lagerarzt vorgeführt, der eine 24stündige Arreststrafe verhängte. Auf dem Weg zum Arrest konnte sich Golesich befreien und wiegelte die Lagerinsassen auf. Golesich gab an, infolge seiner Epilepsie keinen Alkohol zu vertragen, aber trotzdem einen Liter Wermutwein getrunken zu haben. Er könne sich an nichts erinnern. Der bereits viermal wegen öffentlicher Gewalttätigkeit vorbestrafte Mann wurde zu achtzehn Monaten schweren Kerkers verurteilt, was für damalige Verhältnisse eine hohe Strafe bedeutete.
Das Flüchtlingslager in Wagna wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs für Kriegsflüchtlinge und ausgesiedelte Zivilbevölkerung errichtet und verfügte neben den Wohnbaracken über ein Krankenhaus, einen Wasserturm, einen Kindergarten, eine Nähstube und zwei Schulen – war also vollkommen eigenständig eingerichtet. Die ersten Bewohner des Flüchtlingslagers waren habsburgtreue Juden aus Galizien und der Bukowina, die im August 1914 in das Innere der Monarchie flüchteten. Im November 1914 gab es Tage, an denen jeweils an die 3000 Flüchtlinge in Wien eintrafen, die bei Verwandten Unterschlupf suchten, und zum Teil im Flüchtlingslager Wagna untergebracht wurden. 1915 folgten italienische Familien aus Friaul. Das Flüchtlingslager Wagna wurde als "drittgrößte Stadt der Steiermark" bezeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente es als Erstaufnahmestation für Displaced Persons. Das Lager erlebte während der Ungarnkrise 1956 seinen letzten Höhepunkt und blieb noch bis 1963 in Betrieb. Heute befindet sich an der Stelle des ehemaligen Lagers eine Wohnsiedlung.
Links:
Der unglückliche Schuß im Lager zu Wagna (Neues Wiener Tagblatt vom 8. Jänner 1918)
Heute vor 100 Jahren: Zwischenfall im Flüchtlingslager Wagna (4. Oktober 1917)
Weiterlesen: Flüchtlingslager Wagna und Flavia Solva (1915)