Am 9. Dezember 1918 berichtete das Neue 8 Uhr-Blatt über eine Schenkung von unerwarteter Seite, nämlich von ehemaligen italienischen Kriegsgefangenen aus dem Lager Sigmundsherberg:
"Wir haben in der vergangenen Woche mitgeteilt, daß Verhandlungen im Zuge sind, um einen Teil der zahlreichen Liebesgabenpakete für die Armen Wiens erhältlich zu machen, die für die Kriegsgefangenen und internierten Angehörigen der Entente in Sigmundsherberg lagern. Wie wir nun erfahren, haben diese Verhandlungen einen ersten Erfolg gezeigt, indem morgen 100.000 dieser Pakete der Stadt Wien übergeben werden. Diese 100.000 Pakete stellen ein Geschenk der italienischen Kriegsgefangenen an die Stadt Wien dar. Sie werden von der am Samstag aus Innsbruck hier eingetroffenen italienischen Offiziersmission im Einverständnis mit den Lagerkommandanten von Sigmundsherberg Oberst Menna übergeben werden und sind in erster Linie für Spitäler, Kranke usw. bestimmt."
Das Kriegsgefangenenlager im niederösterreichischen Sigmundsherberg war eines der größten seiner Art in der Donaumonarchie. Zeitweise waren dort bis zu 75.000 Kriegsgefangene interniert. Zunächst für russische Soldaten geplant, wurde es nach dem Kriegseintritt Italiens vor allem als Unterkunft für italienische Kriegsgefangene genutzt. Während des Krieges kam es regelmäßig zur Überbelegung des Lagers (teilweise Überbelegung von bis zu 7.000 Gefangenen), Krankheiten verbreiteten sich sehr schnell und aufgrund der allgemeinen Versorgungskrise litten die Soldaten oft unter Hunger und Kälte. Auf dem Lagerfriedhof wurden während des Krieges 2.363 Italiener, 75 Russen, 9 Serben, 9 Montenegriner, 8 Rumänen und 29 Angehörige der k.u.k. Armee begraben.
Am 1. November 1918 desertierte ein großer Teil der Wachsoldaten, woraufhin die italienischen Soldaten das Kommando im Lager an sich reißen konnten. Das Kriegsministerium erfuhr davon erst tags darauf, da es seine ganze Aufmerksamkeit auf die Waffenstillstandsverhandlungen mit Italien legte und das Hilfsgesuch des Lagerkommandanten nicht weitergereicht wurde. Bereits in den ersten Novembertagen 1918 reisten die meisten Italiener in ihre Heimat ab, der letzte italienischen Soldat verließ Sigmundsherberg am 20. Februar 1919.
Insgesamt wurde eine knappe Million Lebensmittelpakete aus Sigmundsherberg an die mehr als 600.000 als bedürftig geltenden Wienerinnen und Wiener verteilt (circa 30% der gesamten Stadtbevölkerung!). Die Pakete enthielten unter anderem Schiffszwieback, Brot, Reis, Schokolade, Kondensmilch, Hirse und Bohnen, aber auch Kleidungsstücke und Kosmetikartikel.
Link:
Die Sigmundsherberger Liebesgaben (Neues 8 Uhr-Blatt vom 9. Dezember 1918)