Am 9. September 1918 berichtete die Illustrierte Kronen-Zeitung über eine Mitteilung der Wiener Bezirkskrankenkasse, die aufgrund der erschreckenden Zunahme von Geschlechtskrankheiten erging:
"Es ist allgemein bekannt, daß während des Krieges die Geschlechtskrankheiten eine sehr bedeutende Zunahme erfahren haben. Damit ist die Erkrankungsgefahr für jeden einzelnen wesentlich gesteigert. Es ist daher dringend geboten, eine eventuelle Erkrankung möglichst frühzeitig ärztlich festzustellen und fachgemäß behandeln zu lassen. Es wird zu diesem Zweck auf die nachstehend verzeichnete Behandlungs- und Beratungsstellen, insbesondere auf die neueingerichteten Abendordinationen aufmerksam gemacht, durch die es erwerbsfähigen Versicherten ermöglicht ist, nunmehr auch ohne Unterbrechung der Berufstätigkeit ärztlichen Rat in Anspruch zu nehmen."
Während vor dem Ersten Weltkrieg sich rund 5,6% der österreichisch-ungarischen Soldaten mit einer Geschlechtskrankheit ansteckten, waren es 1915 bereits 12,2%. Ein Hauptgrund für die schnelle Verbreitung von Geschlechtskrankheiten war die kriegsbedingte Zunahme der Prostitution; zahlreiche Frauen prostituierten sich auch aufgrund ihrer prekären Lebenssituationen. Die Abwesenheit der Ehemänner, die an die Fronten kommandiert wurden, beförderte außerdem die Geheimprostitution. Um die Sexualmoral zu erhöhen – während die männliche Inanspruchnahme der Prostitution kaum verpönt war, wurde jeglicher außereheliche Geschlechtsverkehr der Frau als "Hurerei"abgetan –, propagierte die österreichische Regierung sexuelle Enthaltsamkeit und erleichterte (auch posthume) Eheschließungen, allerdings mit mäßigem Erfolg.
Links:
Die Zunahme der Geschlechtskrankheiten (Illustrierte Kronen-Zeitung vom 9. September 1918)
Heute vor 100 Jahren: Die Sexualmoral im Krieg (5. November 1917)
Weiterlesen: Geschlechtskrankheiten und deren Bekämpfung in der k.u.k. Armee
Weiterlesen: Zur sexuellen Entspannung der Soldaten
Das Stadttheater Klagenfurt – 1908 nach Plänen des Wiener Architektur Büros Fellner & Helmer errichtet – diente im letzten Kriegsjahr auch als Kinosaal. Am 10. September 1918 berichteten die Klagenfurter Freien Stimmen über das aktuelle Programm:
"Im Stadttheater beginnt heute die vorletzte Woche der Kinovorführungen, die diesmal eine Reihe bestrickender Filmwerke bringen. Bei dem vieraktigen phantastischen Erlebnis 'Martha Johannes, der Mann mit den leuchtenden Augen', sieht man sich einem Ereignis gegenüber, man kommt zur Erkenntnis, daß es noch immer neue Möglichkeiten und verblüffende Einfälle unerschöpflicher Phantasie gibt, die die Zukunft und den sicheren, unaufhaltsamen Aufstieg der Kinokunst verbürgen. Der Vorzug dieses Films ist die raffiniert auf das höchste gesteigerte Spannung, unverbrauchte Tricks, die nicht erraten lassen, was sich aus der angedeuteten Handlung im nächsten Szenenbild entwickelt, den Zuschauer unausgesetzt anregend fesseln und eine Ueberraschung die andere jagt, machen dieses auch in der Darstellung und Inszenierung hochstehende Drama zu einem Schlager."
Auch die anderen Filme, die im September im Stadtteater gezeigt wurden, "Zwecklos geopfert", "Das Lieserl vom Leisachtal", "Sebille" sowie die Posse "Seine erste Radfahrpartie" fanden in den Freien Stimmen viel positiven Anklang.
Link:
Im Stadttheater (Freie Stimmen vom 10. September 1918)
Am 11. September 1918 berichtete das Salzburger Volksblatt von der Lungenheilstätte im kärntnerischen Schloss Tentschach:
"Die Lungenheilstätte Tentschach bei Klagenfurt ist von der Landesfürsorgekommission für heimkehrende Krieger in Kärnten errichtet worden. Das einem englischen Staatsbürger gehörende, für Kriegsdauer beschlagnahmte Schloß Tentschach bietet gegenwärtig 78 lungenkranken Militärpersonen (70 Mannschaften, 8 Offizieren) Unterkunft. Liegehallen sind errichtet und auch sonst die nötigen Adaptierungen vorgenommen worden. Neben der Liegekur wird auch Arbeitstherapie betrieben. Die Anstalt steht unter Verwaltung des Roten Kreuzes für Kärnten."
Die auf das 13. Jahrhundert zurückgehende und 1570 schlossartig ausgebaute Burg befand sich bei Kriegsausbruch 1914 im Besitz des englischen Diplomaten und ehemaligen britischen Botschafters in Österreich-Ungarn Sir William Edward Goschen und wurde für die Zeit des Krieges beschlagnahmt. Zunächst wurde im Schloss ein Notreservespital eingerichtet, das 1916 in eine Lungenheilstätte umgewandelt wurde. Da das Schloss zwischen Wäldern und Wiesen liegt und die Luft dort weitgehend staubfrei ist, war der Ort für eine Lungenheilstätte besonders gut geeignet.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Schloss der Familie Goschen restituiert. Heute befindet es sich im Besitz des 1923 geborenen Kärntner Malers Carlo Kos.
Links:
Die Lungenheilstätte Tentschach bei Klagenfurt (Salzburger Volksblatt vom 11. September 1918)
Weiterlesen: Die Tuberkolosebekämpfung in Kärnten (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 25. April 1917)
Weiterlesen: Schloss Tentschach (Burgen Austria)
"Das Ende der Sommerzeit. Alle öffentlichen Uhren sind am Montag, den 16. September, morgens um 3 Uhr der gegenwärtigen Zeitrechnung (Sommerzeit) um eine Stunde zurückzustellen."
Am 12. September 1918 erinnerte das Neuigkeits-Welt-Blatt an die unmittelbar bevorstehende Zeitumstellung. Hundert Jahre nach dieser Erinnerung könnte den jährlichen Zeitumstellungen allerdings das endgültige Ende drohen, denn mit einer im Sommer 2018 durchgeführten europaweiten Umfrage zur Zeitumstellung löste die Europäische Kommission eine breite Debatte dazu aus. Der Großteil der Befragten stimmte für eine Abschaffung der Zeitumstellung und für die Beibehaltung der Sommerzeit.
Die "Sommerzeit" wurde erstmals 1916 vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn angewendet, um in den Waffen- und Munitionsfabriken in den Sommermonaten länger ohne künstliches Licht arbeiten zu können. Andere Staaten sollten diesen Brauch allerdings rasch übernehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Sommerzeit zugunsten der an der Sonne orientierten Normalzeit abgeschafft, um wenige Jahre später wieder eingeführt zu werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte Österreich 1948 auf die durchlaufende Normalzeit um. Erst 1980 wurde die Sommerzeit hierzulande wieder eingeführt und gilt bis heute.
Links:
Das Ende der Sommerzeit (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 12. September 1918)
Heute vor hundert Jahren: Normalzeit und Winterzeit (16. September 1917)
Aufgrund des kriegsbedingten Futtermangels starben immer mehr Tiere im Schönbrunner Zoo, dem ältesten Tiergarten der Welt. Am 13. September 1918 brachte das Neuigkeits-Welt-Blatt jedoch eine der seltenen erfreulichen Nachrichten aus der Menagerie:
"Man erinnert sich, daß es ein lokales Ereignis darstellte, wenn in der Dickhäuterabteilung des Schönbrunner Tiergartens ein Elefanterl das Licht der Welt erblickte, und daß wochenlang groß und klein hinausströmte, um das herzige 'Mädi' zu bewundern. Die Vorgänge der jetzigen Zeit lenken die Gedanken auf andere, wichtigere Dinge und doch verdient es Beachtung, daß vor etwa Monatsfrist in dieser Menagerie wieder eine 'Kinderstube' eingerichtet werden mußte. Das weibliche Nilpferd 'Paula' warf am 14. August ein Junges, was bei dieser Gattung der Dickhäuter in der Gefangenschaft eine überaus große Seltenheit darstellt. Während der Tiergarten im Laufe der letzten Jahre an Elephanten, Giraffen und anderen Tieren bedeutende Verluste hatte, ist es gerade die Abteilung der Nilpferde, die trotz der auch hier herrschenden Kriegskost frisch und gesund geblieben sind. Der Vater des Jungen, Peter, ist heute 14 Jahre alt, die Mutter ein Jahr jünger und außerdem ist auch noch ein zehnjähriger Bulle 'Fritzl' vorhanden, so daß sich derzeit vier dieser seltenen Tiere in der Schönbrunner Menagerie befinden. Daß das junge Nilpferd 'reizend' ist, braucht wohl nicht erwähnt zu werden. Es ist von dunkelgrauer Farbe und in den Weichteilen zartrosa gefärbt. Trotz seiner, auch für ein Nilpferd in diesem Alter, hervorragenden Kräftigkeit, ist es aber doch ein 'heikliches Tierchen', weshalb eine Besichtigung des 'Säuglings' durch das Publikum vorderhand nicht gestattet werden kann. Dafür zeigen wir aber unseren Lesern das bisher noch namenlose 'Nilpferdchen' nach einer Naturaufnahme unseres Zeichners in obigem Bild."
Links:
Ein "Kriegsjunge" in der Schönbrunner Menagerie (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 13. September 1918)
Heute vor 100 Jahren: Der Krieg und der Eisbär (11. Mai 1918)
Heute vor 100 Jahren: Eine hungrige Menagerie. Eingegangene Schönbrunner Lieblinge (13. August 1918)
Am 9. September 1918 besuchten Journalisten aus dem Deutschen Reich Wien. Unter anderem besichtigten sie verschiedene Sehenswürdigkeiten, darunter das Wiener Rathaus, das Schloss Schönbrunn oder das wenige Wochen zuvor eröffnete Technische Museum:
"Eine Anzahl hervorragender Vertreter der reichsdeutschen Presse verweilten jetzt einige Tage in Wien, um der österreichischen Presse einen Gegenbesuch abzustatten, der sich aber zugleich in den Dienst des Bündnisses zwischen den beiden Reichen stellte. Es wurde denn auch nicht nur von den hiesigen journalistischen Vereinigungen der Empfang der reichsdeutschen Kollegen aufs beste vorbereitet, sondern auch offizielle Stellen benützen diesen Anlaß, um über weltbewegende Fragen zu sprechen. So sind namentlich, die Reden, die der Minister des Aeußern Graf Burian und der deutsche Botschafter Graf Wedel hielten, von größter Bedeutung und auch die Darlegungen zahlreicher anderer Redner waren geeignet, das wichtige Amt der Presse in dem derzeitigen Lebenskampf der Völker zu kennzeichnen. Es war selbstverständlich, daß bei diesem Besuch auch alles aufgeboten worden war, den Gästen den Aufenthalt in Wien so angenehm als möglich zu machen und ihnen die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt zu vermitteln."
Am Abend des 9. Septembers veranstaltete der Wiener Journalisten- und Schriftstellerverein Concordia einen Empfangsabend, den der österreichische Außenminister Burian für eine "Friedensrede" nutzt, in der er die gute Zusammenarbeit zwischen der deutschen und österreichisch-ungarischen Presse während des Krieges betonte und die Schuld an der langen Dauer des Krieges – also "die uns vom Feinde gänzlich nutzlos und verbrecherisch aufgezwungene Verlängerung des Krieges" – den Staaten der Entente zuschrieb.
Der Presseclub Concordia mit seinem Wahlspruch "Concordia res parvae crescunt" ("Durch Eintracht wächst das Kleine") ist der älteste Presseclub der Welt und hatte seine ursprünglichen Räumlichkeiten in der Werdertorgasse 12 in der Wiener Innenstadt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 wurde diese Liegenschaft zusammen mit allen anderen Vermögenswerten der "Concordia" konfisziert. Nach 1945 konnte der Presseclub aber wiedererrichtet werden und ist seit 1958 im neuen Vereinshaus in der Wiener Bankgasse 8 untergebracht.
Links:
Die reichsdeutschen Journalisten auf der Gloriette in Schönbrunn (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 14. September 1918)
Weiterlesen: Zur Geschichte des Wiener Journalisten- und Schriftsteller-Vereines "Concordia" 1859 – 1884, Wien 1884 (Volltext)
Da die Kohlenot insbesondere in den Städten der Monarchie während des Weltkriegs stetig wuchs und die Versorgung für den Herbst und Winter 1918 in Wien alles andere als gesichert erschien – beispielsweise war das Heizen vor dem 15. Oktober verboten und in Privathaushalten durften maximal drei Räume geheizt werden –, berichteten die Wiener Bilder am 15. September 1918 Jahren über die neuen städtischen Kohlebahnhöfe, wo sich die Bevölkerung mit Kohle versorgen konnte. Nicht zuletzt auch deshalb, um die Bevölkerung zu beschwichtigen:
"Vor kurzem ist aus den neuen städtischen Kohlenplätzen die 83.000 Partei rayoniert* worden und damit ist ein Großteil der Bevölkerung mit städtischer Kohle versorgt. Der Ausbau der städtischen Kohlenplätze ist damit vorbehaltlich etwaiger in Zukunft erforderlicher Projekte als vollendet zu betrachten. Schon 1914 war mit der Anlage der Kohlenplätze Westbahnhof, Matzleinsdorf, Engerthstraße, Vorgartenstraße und Nordwestbahnhof begonnen worden. Im Februar 1915 wurden diese fünf Plätze, im September 1915, der Kohlenplatz Ottakring eröffnet. Alle diese Plätze sind an Hauptbahnen gelegen und erhielten zunächst befindliche Bahngeleise oder eigene Schleppgeleise. Als im Dezember 1916 die Situation kritisch wurde, erbaute die Gemeinde neue Kohlenplätze am Aspangbahnhof, in Michelbeuern, Floridsdorf und in der Aßmayergasse. Ueberdies wurden von der Nordwestbahn nächst der Stromstraße eigene Kohlenkutschen errichtet, die mit Straßenbahnanschluß hauptsächlich das Jubiläumsspital, die Kriegsspitäler und die Betriebsbahnhöfe mit Kohle versorgen. Die starke Kälte des Winters 1916-17 brachte außerordentliche Ansprüche an die Kohlenversorgung. Es wurde daher neue Plätze an Hauptbahnen gebaut, und zwar am Ostbahnhof, in Altmannsdorf und Baumgarten. Da weitere an Hauptbahnen gelegene Plätze nicht zur Verfügung standen, wurden in Grinzing, Hernals und Erdberg Kohlenverkaufsplätze neu errichtet, die, mehr dem Zentrum der Stadt zu gelegen, eingebaute Straßenbahnhöfe erhielten. Die drei letztgenannten Plätze bedingten wieder die Anlage eines Kohlenumschlagplatzes (Umladung von Voll- auf Straßenbahnwagen), die in der Vorgartenstraße geschaffen wurden. Die Ueberladung geschieht mittelst fahrbaren Drehkranes von den Vollbahnwagen in zwei Kohlensilos, von welchen aus auf maschinellem Wege die Beladung der Straßenbahnwagen erfolgt wobei der ganze Zug unter den Silo fährt. Der Dampfkran kann bei zehnstündiger Arbeitszeit 300 Tonnen entladen. Die Abfertigung eines ganzen Straßenbahnzuges dauert nur zehn Minuten."
* "Rayonierung" bedeutete die Zuordnung bestimmter Geschäfte und Warenausgabestellen an dort anwohnende und registrierte Bevölkerungsgruppen; das bedeutete, dass "rayonierte" Güter ausschließlich an den vorher festgelegten Verkaufsstellen an genau definierten Personengruppen verkauft werden durften, und das auch nur nach Vorlage der entsprechenden Bezugsscheine, "Fremde" wurden nicht bedient.
Link:
Die Wiener städtischen Kohlenbahnhöfe (Wiener Bilder vom 15. September 1918)
Einst stand zwischen der Mariahilferstraße (Hausnummer 30) und dem Grazer Lendkai (Hausnummer 29) ein großer Braugasthof, der als "Zusammenkunftsort flotter, trinkfroher und heiterkeitssuchender Grazer" diente, wie das Grazer Tagblatt am 16. September 1918 berichtete. "Dort feierten die Volkssänger Triumphe und hörte man Sonntag vormittags, nachmittags und abends bei schäumendem Bier mehr oder minder gute Musik […] die Konzerte kündigte eine weiß-rote Fahne von weitem an."
Aus dem vom Grazer Tagblatt als Stück von "Alt-Graz" bezeichneten Brauhof wurde in späteren Jahren ein Einkehrgasthaus mit dem Namen "Königstiger", das im frühen 20. Jahrhundert offenbar keinen allzu guten Ruf mehr genoss. Der "Königstiger" wurde deshalb einer kompletten Renovierung unterzogen und im September 1918 unter dem Namen "Zum grünen Baum" wiedereröffnet. Diese Wiedereröffnung kommentierte das Grazer Tagblatt so: "Fortan wird dieser Gasthof den Namen 'Zum grünen Baum' führen. Vielleicht kommt der unternehmungslustige Gastwirt auf einen grünen Zweig."
Heute ist die Mariahilferstraße zwischen Lendplatz und Südtiroler Platz der Mittelpunkt des Grazer Kreativbezirks "Lendviertel". An der ehemaligen Hauptadresse des "Königstigers" und späteren "Grünen Baums", Mariahilferstraße 30, befindet sich heute ein Neubau mit Co-Working-Spaces und verschiedenen kulturellen Einrichtungen.
Link:
Erneuerung eines Stückes Alt-Graz (Grazer Tagblatt vom 16. September 1918)
Bei all den Schrecken des Ersten Weltkrieges, kam es auch fallweise zu erfreulichen und wundersamen "Auferstehungen". Diese Auferstehungen hatten aber weder etwas Göttliches, noch etwas Magisches an sich, sondern kamen durch bürokratische Fehler und durch chaotische Zustände in den Feldlazaretten zustande:
"Im Laufe der Kriegsjahre ist es wiederholt vorgekommen, daß sich Totgesagte und als Totbeweinte wieder gemeldet haben. Die 'Illustrierte-Kronen-Zeitung' hat in ihren Artikeln 'Kunde von Kriegsgefangenen' zahllose Fälle veröffentlicht, in denen von derartigen Auferstehungen erzählt wurde […] Dieser Tage hat in Traiskirchen ein 'Toter' einen Taufschein geholt. Der beim 84. Inf.-Reg. eingerückte Heinrich Baumgartner, erschien in der Pfarrkanzlei und bat um Ausstellung eines Taufscheines. Der Pfarrer sah im Taufbuche nach und fand zu seinem größten Erstaunen, in der Rubrik 'Anmerkung' folgenden amtlichen Vermerk: 'Gestorben am 7. März 1916 in Irkutsk in Rußland an Blinddarmentzündung laut Mitteilung des Ersatzbataillons des Inf.-Reg. 84, Wien dedato 3. Februar 1918.' Auch der totgesagte Heimkehrer war sehr überrascht, als er im Taufbuche mit eigenen Augen diesen Vermerk las. Er war aber in der glücklichen Lage, den Sachverhalt erschöpfend aufzuklären. Baumgartner war in der Tat im Lazarett in Irkutsk an Blinddarmentzündung behandelt worden. Dort kam ihm seine Legitimationskapsel abhanden und diese geriet vermutlich durch ein Versehen eines Lazarettgehilfen zu den Kapseln der im Spital Verstorbenen. Das russische Rote Kreuz erhielt dann mit der Liste der Verstorbenen auch den Namen des Kriegsgefangenen Heinrich Baumgartner und von unserem Roten Kreuz ward das Ersatzbataillon des Inf. Reg. 84 verständigt, welche dann die amtliche Meldung vom Tode des Kriegsgefangenen Heinrich Baumgartner an sein zuständiges Pfarramt weiterleitete."
Link:
Unser Titelbild (Illustrierte Kronen-Zeitung vom 17. September 1918)
"Morgen werden die Opfer der Katastrophe von Wöllersdorf begraben werden. Junge Mädchen, halbe Kinder noch, gestern noch voll Hoffnungen auf ein lachendes Lebensglück, das sie dereinst entschädigen werde für die Nöte und Mühsale der Kriegszeit; Frauen, deren Kinder noch kaum ahnen, daß sie die Mutter nie, nie wiedersehen werden, und deren Gatten, fern im Schützengraben, zur Stunde noch nicht wissen, daß sie die Lebensgefährtin verloren haben, die so lang vergebens den Tag ersehnt hat, der ihr den Gatten wiedergeben werde – sie alle wird die Arbeiterschaft von Wöllersdorf morgen in die Erde betten. In langem stillen Zuge, einen schlichten Sarg hinter dem anderen, mehr als vierhundert an Zahl, werden die Arbeiter von Wöllersdorf zum Grabe tragen." (Arbeiter-Zeitung vom 21. September 1918)
Ab 1815 entstanden auf dem Gelände der "Feuerwerksanstalt" bei Wöllersdorf Anlagen zur Produktion von Raketen und Explosivstoffen. Während des Ersten Weltkriegs entwickelte sich die ehemalige Feuerwerksanstalt zur größten Munitionsfabrik der Monarchie mit etwa 1000 Werks- und Lagerhallen, in denen kriegsbedingt vor allem Frauen und junge Mädchen zum Einsatz kamen. Am 18. September 1918 sollte es dort zur größten zivilen Katastrophen des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn kommen, die mit 423 Toten mehr Opfer forderte als die bis dahin größte Brandkatastrophe der Monarchie, der Wiener Ringtheaterbrand von 1881.
Die Katastrophe vom 18. September 1918 nahm ihren Ausgang im Objekt 143, wo Frauen und Mädchen Munitionshülsen mit Schießpulver befüllten. Aufgrund des großen Munitionsbedarfs wurden Sicherheitsmaßnahmen nur wenig beachtet, Arbeitsschutzvorschriften wurden vom militärischen Kommando der Waffenfabrik immer wieder außer Kraft gesetzt. Kurz vor der Mittagspause fiel eine Patronenhülse auf den Boden und erzeugte eine Stichflamme, die das in der Halle gelagerte Schießpulver in Brand setzte. Die große Hitze in den Hallen begünstigte die Ausbreitung des Feuers. Zwar versuchten die Arbeiterinnen zu flüchten, doch waren die Ausgangstüren versperrt – eine vorsorgliche Maßnahme des Militärs, damit keine der Arbeiterinnen vorzeitig in die Mittagspause gehen konnte. Die meisten Arbeiterinnen verbrannten bei lebendigem Leib, zumeist unmittelbar vor den versperrten Toren.
Die Regierung versuchte die Meldungen über die Brandkatastrophe mit den Mitteln der Zensur kleinzureden und zu verharmlosen. Erst mehrere Tage nach der Katastrophe wurde der volle Umfang der Tragödie der Öffentlichkeit bekannt, wobei das Interesse der regierungstreuen Presse vor allem der Verhinderung eines möglichen Produktionsausfalles galt.
Schon 1918 geriet diese größte Brandkatastrophe der österreichisch-ungarischen Monarchie wegen der dramatischen politischen Umwälzungen nur wenige Wochen nach dem Unglück rasch in Vergessenheit und ist bis heute nur wenig bekannt. Um die tragischen Ereignisse von 1918 dem Vergessen zu entreißen, wurde für die Opfer der Brandkatastrophe eine Gedenkstätte errichtet, die am 28. September 2018 in feierlichem Rahmen enthüllt wird (siehe den Hinweis weiter unten).
Links:
Wöllersdorf (Arbeiterzeitung vom 21. September 1918)
Die Füße des Geschosses. Aus der k.u.k. Munitionsfabrik Wöllersdorf (Österreichs illustrierte Zeitung vom 14. Juli 1918)
Heute vor 100 Jahren: "Einweihung der Garnisonskirche in Wöllersdorf, der neuen gewaltigen Munitionsstadt" (20. Juni 1918)
Weiterlesen: Brandkatastrophe in der k.u.k. Munitionsfabrik Wöllersdorf am 18.9.1918 Gedenkveranstaltung am 28. September 2018, 15:00 Uhr: 100 Jahre Brandkatastrophe in der k.u.k. Munitionsfabrik Wöllersdorf – Nie wieder Krieg!