Heute vor hundert Jahren berichtete der Allgemeine Tiroler Anzeiger über einen Instruktionskurs für Seelsorger in der Caritasarbeit:
"Am 17. ds. wurde in den Räumen des Wiener Caritashauses, Währingergürtel 104, der vom Katholischen Wohltätigkeitsverbande für Niederösterreich veranstaltete Instruktionskurs für Seelsorger in der Caritasarbeit eröffnet. Zu dieser wichtigen und zeitgemäßen Veranstaltung haben sich an 100 Priester aus allen Teilen unseres Vaterlandes eingefunden, alle in gleicher Weise von dem Gedanken durchdrungen, sich unter dem völkerverbindenden Banner der christlichen Caritas den hohen Werken der Nächstenliebe zu widmen, die gerade in unseren Tagen eine auch in seelsorglicher Hinsicht so hohe Bedeutung erlangt haben."
Der österreichische Caritasverein entstand zur Jahrhundertwende nach dem Vorbild des bereits 1897 in Köln gegründeten Caritasvereins. Zuvor war die Kirche direkt für Wohlfahrtsangelegenheiten zuständig. Allerdings verlangten die zunehmende Industrialisierung und die damit verbundenen sozialen Probleme neue Organisationsformen. Aus diesem Grund hielt die katholische Kirche im Mai 1900 den "Kongreß der katholischen Wohltätigkeitsvereine Österreichs" ab, in dem vor allem über Kinderschutz, Jugendfürsorge, Volksbildung sowie über Armen- und Krankenfürsorge debattiert wurde. Ein Jahr später wurde der erste österreichische Caritasverband in Wien gegründet, 1903 die Reichsorganisation der Landeswohltätigkeitsverbände sowie die die Katholische Zentralstelle für Armenfürsorge.
Während des Ersten Weltkriegs engagierte sich die noch junge Caritasorganisation im Kampf gegen Jugendverwahrlosung und Wohnungsnot, richtete Kriegsküchen ein und pflegte Verwundete. 1916 erwarb der Caritasverband seine erste Immobilie, das Wiener Caritashaus am Währingergürtel 104, an dessen Stelle heute ein Neubau steht. Zwei Jahre später entstand der "Österreichischen Caritasverband für Wohlfahrtspflege und Fürsorge".
Heute umfasst die Arbeit der Caritas fast den ganzen Bereich menschlichen Lebens: Kinder-, Behinderten-, Flüchtlings-, Obdachlosen- und Altenwohnhäuser, Mütter- und Familienhilfe, Ausbildungsstätten, mobile und stationäre Altenbetreuung, Hospizdienste, Betreuung von Alkoholkranken und Drogenabhängigen, mobile und stationäre Betreuung von obdachlosen Menschen, Rechtsberatung und Projekte für Langzeitarbeitslose sowie Katastrophen- und Entwicklungshilfe im Ausland.
Links:
Instruktionskurs für Seelsorger zur Einführung in die Caritasarbeit (Allgemeiner Tiroler Anzeiger vom 19. September 1918)
Heute vor 100 Jahren: Fürsterzbischof Ignaz Rieder, Förderer des Caritasverbandes (12. August 1918) Weiterlesen: Geschichte der Caritas
Weiterlesen: Caritas Österreich
Die Innsbrucker Nachrichten veröffentlichten am 20. September 1918 einen kuriose Bericht des aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Vorarlberg zurückgekehrten Wilhelm Lochner. Der Landsturm-Oberjäger Lochner hatte sich im Sommer 1918 zur gleichen Zeit in Jekaterinburg aufgehalten wie der abgesetzte und dort internierte ehemalige russische Zar Nikolaus:
"Bei der Bewachungsmannschaft waren Kriegsgefangene, besonders Ungarn und Reichsdeutsche. Lochner sprach mit einem Kriegsgefangenen, welcher die persönliche Wache beim Russenzaren hatte: der Zar ließ sich mit dem Kriegsgefangenen in ein Gespräch ein und erfuhr so, daß er einen österreichischen Kriegsgefangenen zu seinem Wächter habe. Kopfschüttelnd und nachdenklich sagte der gestürzte Herrscher, er hätte es sich nicht träumen lassen, daß er in seinem Riesenreiche einmal von einem österreichischen Kriegsgefangenen in strengster Wacht gehalten werde und sich dessen Anordnungen zu fügen habe."
Zar Nikolaus wurde im Zuge der Russischen Revolution 1917 zur Abdankung gezwungen und mit seiner gesamten Familie unter Hausarrest gestellt. Großbritannien, das der Zarenfamilie ursprünglich Asyl angeboten hatte, zog dieses Angebot wieder zurück, da man mit der Aufnahme des ehemaligen Zaren revolutionäre Unruhen in England befürchtete. Im April 1918 wurde die Zarenfamilie nach Jekaterinburg verlegt, wo sie in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli ermordet wurde. Am Erschießungskommando nahmen tatsächlich auch mehrere ungarische Kriegsgefangene teil, deren Namen seit einem zufälligen Aktenfund aus dem Jahr 1993 bekannt sind.
Links:
Oesterreichisch-ungarische Kriegsgefangene als Bewacher des entthronten Zaren (Innsbrucker Nachrichten vom 20. September 1918)
Weiterlesen: Die Ermordung der Zarenfamilie
Weiterlesen: Faksimile der Namensliste des Erschießungskommandos (auf russisch)
Am 21. September veröffentlichte der Wienerwald-Bote einen Hilferuf, da der Lainzer Tiergarten – damals ein Teil der niederösterreichischen Gemeinde Hadersdorf-Weidlingau – angeblich vor seinem Verkauf an Investoren stand. Der bis heute zum allergrößten Teil erhaltene Tierpark stand damals in kaiserlichem Eigentum ("Hofärar"), wurde für die Öffentlichkeit nur selten geöffnet, galt aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Teil des zu erhaltenden Wiener Grüngürtels:
"Einem Gerüchte zufolge sollen zwischen dem Hofärar und einem Bankkonsortium Verhandlungen bezüglich des Verkaufes des Lainzer Tiergartens schweben zu dem Zwecke, diesen prächtigen Teil unseres Wienerwaldes 'nutzbringend' d.h. zu einer gewinnbringenden Terrainspekulation zu verwerten. Das von einer 24,2 Kilometer langen Mauer umschlossene Gebiet des Lainzer Tiergartens umfaßt einen ganzen Ausläufer unseres herrlichen Wienerwaldes in einem Ausmaße von 4476 Joch 1280 Quadratklafter, von welchen ein geringer Bruchteil heute noch der Gemeinde Mauer gehört. Gewöhnlichen Sterblichen ist es nur in ganz seltenen Ausnahmefällen gestattet, in dieses stille, einsame Waldreich einzudringen, welches außerordentlich viel und seltenes Wild beherbergt. Hier in diesen stillen Wäldern herrscht noch die unverkümmerte Natur, hier wohnt der Frieden, hier ist die Ruh! Nun soll aber alles ein Ende haben, weil ein Kreis von Kriegsgewinnlern, weil eine Horde von Bodenspekulanten den Zeitpunkt für günstig erachtet, ihre Hand auf eine Bodenfläche zu legen, die als Luftreservoir für die immer mehr sich ausdehnende Hauptstadt unentbehrlich und unersetzlich ist und die deswegen auch dazu bestimmt war, einen Teil jenes Wald- und Wiesengürtels zu bilden, der für immerwährende Zeit den grünen Rahmen Wiens bilden soll. Die Nachricht von den Verhandlungen, dieses Waldgebiet der Boden- und Holzspekulation preiszugeben, berührt umso peinlicher und merkwürdiger, als das bereits vor Jahresfrist gestellte Ansuchen der Gemeinde Wien um eine Grundüberlassung zur Errichtung einer Tuberkulosenheimstätte bis heute keiner Erledigung gewürdigt worden ist. Auch damals, als die Gemeinde Wien die neue Hochquellenwasserleitung baute, wurde das Ansuchen Dr. Luegers, die Leitung durch einen Teil des Tiergartens legen zu dürfen, abschlägig beschieden. Dadurch war die Gemeinde gezwungen, eine weit längere Leitungsstraße zu wählen, was mit gewaltigen Mehrkosten verbunden war."
Tatsächlich wurde bereits 1913 ein Teil des Lainzer Tiergartens gerodet, um Platz für eine mondäne Villensiedlung zwischen dem heutigen Lainzer Tor und der Linienamtsstraße zu schaffen. Die Errichtung der Villen fiel allerdings dem Weltkrieg zum Opfer, sodass in unmittelbarer Nachkriegszeit Kriegsinvalide das gerodete Areal besetzten, um dort Wohnraum zu schaffen. Tatsächlich sprach der Kriegsgeschädigtenfonds den mittlerweile als "Erste gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft der Kriegsinvaliden Österreichs" organisierten Invaliden diesen Teil des Lainzer Tiergartens als Baugrund für die "Friedensstadt" zu, deren Grundsteinlegung am 3. September 1921 erfolgte. Das Konzept für die geplante Gartenstadt stammte von Adolf Loos, wurde aber nur in Ansätzen umgesetzt.
Der Lainzer Tiergarten sowie Hadersdorf-Weidlingau verblieben in der Ersten Republik bei Niederösterreich und wurden 1938 in das nationalsozialistische "Groß-Wien" eingemeindet. Nach 1945 verblieben sie gemeinsam mit 16 weiteren vorher niederösterreichischen Orten bei Wien. Die Siedlungshäuser der Friedensstadt wurden mittlerweile an ihre Bewohnerinnen und Bewohner verkauft.
Links:
Ein Attentat auf den Wiener Wald? (Wienerwald-Bote vom 21. September 1918)
Weiterlesen: Die "Friedensstadt" im Lainzer Tiergarten (Bericht über die Grundsteinlegung, Arbeiter-Zeitung vom 4. September 1921)
Weiterlesen: Siedlungsentwurf für den Lainzer Tiergarten (Der Architekt, Jahrgang 1921)
Weiterlesen: Die Friedensstadt
Am 22. September 1918 machte sich die Allgemeine Automobil-Zeitung über die Vision des Amerikaners C. H. Claudy über das "Automobil der Zukunft" lustig. Claudy dachte an ein modernes Auto, das im Gegensatz zu den 1918 gebräuchlichen Gefährten, eine glatte und geschlossene sowie wetterfeste Karosserie haben würde und so niedrig wäre, dass man nicht mehr hineinklettern müsse. Als Antrieb käme Elektrizität in Frage und autonom sollte das "Automobil der Zukunft" überdies auch noch unterwegs sein. Die von Felix Sterne und Adolf Schmal-Filius in Wien herausgegebenen Allgemeinen Automobil-Zeitung spottete:
"Selbstverständlich ist das hier abgebildete Automobil der Zukunft eine amerikanische Idee, denn nirgends anders als dort würde jemand an einen so phantastischen Gedanken geraten. Schon aus dem Grunde nicht, weil man diesseits des großen Teichs keine so naiven Leser findet, denen man ein Bild vorsetzen könnte, wie das hier wiedergegebene […] Dieses Automobil ist, wie man sieht, mehr Glaswand als Automobil. Wenn dieses Zukunftsautomobil einmal zufälligerweise auf der Landstraße in einen Straßengraben stürzen sollte, so wird es schon einer gehörigen Arbeit bedürfen, um aus den Glastrümmern das automobilistische Herkulaneum oder Pompeji mit den übriggebliebenen Resten der Insassen auszugraben. Hören wir nun, wie sich Herr Claudy dieses Automobil der Zukunft vorstellt. Es wird, so sagt er, vor allem wetterfest sein. Der offene Wagen wird in Zukunft niemals mehr so beliebt sein, wie er es in der Vergangenheit war. Die Normaltype der Zukunft wird vielmehr das wetterfeste Automobil sein […] Innerhalb der Glaswände wären die Insassen auch so vor dem Luftzug gesichert, daß die Damen, wie die Abbildung zeigt, die Hüte entbehren könnten. Da hätten wir also auch einen sehr wirtschaftlichen Vorteil in diesen teuren Zeiten gewonnen, es fielen die Kosten für die Saison- und Uebergangshüte der Damen hinweg, gewiß keine geringe Ersparnis…"
Zwar sind einige der Visionen Claudys nach wie vor Utopie, vieles wurde aber schon verwirklicht, etwa Karosserien aus Fiberglas, Elektromotoren und erste autonom fahrende Automobile. Letzteres ist seit 2016 auch außerhalb der Vereinigten Staaten rechtlich möglich, da in diesem Jahr das "Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr" von 1968 dahingehend adaptiert wurde, dass autonomes Fahren zulässig ist, solange autonom fahrende Kraftwägen jederzeit vom Fahrer gestoppt werden können.
Links:
Das Automobil der Zukunft (Allgemeine Automobil-Zeitung vom 22. September 1918)
Weiterlesen: Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr (Konvention der Vereinten Nationen)
Am Montag, dem 23. September 1918, berichtete die Wiener Abendpost über den allerersten Bühnenauftritt von Anton "Toni" Girardi, Sohn des berühmten Volksschauspielers, der wenige Monate zuvor verstorben war:
"In der Titelrolle des Dramas 'Der Zarewitsch' betrat Herr Anton Girardi, der Sohn des verblichenen großen Künstlers, zum überhaupt ersten Male die Bühne. Er zeigte in der von der Verfasserin durchaus erklügelten und ohne Menschlichkeit hingestellten Theaterpuppe eine für einen Anfänger erstaunliche Bühnensicherheit, behauptete sich als guter und denkender Sprecher; alle sympathischen Mängel des Anfängers fehlten natürlich nicht; noch stellt Girardi jun. mehr dar, als im Geist der Rolle aufzugehen. Aus Momenten der Unbewußtheit blitzt Ähnlichkeit mit seinem Vater; es wird überhaupt der Zweifel lebendig, ob aus Girardi jun. einst ein vortrefflicher humoristischer Bonvivant, kein drastischer Komiker von der Art seines Vaters wird, aber ein wertvolles und hochzuschätzendes Lustspieltalent sicherlich."
Girardis Bühnenpremiere fand am 21. September 1918 im – wie sich die Wiener Abendpost anerkennend ausdrückte – "anmutigen" Stadttheater im niederösterreichischen St. Pölten statt. Der 1899 geborene Anton Maria Girardi sollte bis zum Zweiten Weltkrieg noch zahlreiche Bühnen- und einige Filmauftritte absolvieren, war Mitglied des Ensembles Josef Jarnos im Lustspieltheater im Wiener Prater und betätigte sich auch als Conferencier, Couplet-Sänger und Bühnenautor. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er anfangs als Zeitungsverkäufer in Salzburg, um später nach Hamburg zu übersiedeln, wo er als freier Schriftsteller wirkte. Anton Giardi verstarb 1961.
Links:
Stadttheater in St. Pölten (Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung, vom 23. September 1918)
Heute vor 100 Jahren: Alexander Girardis Burgtheaterpremiere (16. Februar 1918)
Heute vor 100 Jahren: Alexander Girardi verstorben (20. April 1918)
Heute vor 100 Jahren: Die Jarno-Bühnen (31. Juli 1918)
Im September 1918 fand, kriegsbedingt nach langer Zeit, wieder eine Hauptversammlung Kärntner Forstvereins unter dem Vorsitz des späteren Landeshauptmannes von Kärnten Arthur Lemisch statt. Das Grazer Tagblatt berichtete am 24. September 1918 darüber:
"Dr. Artur Lemisch berichtete über die Forstschule. Da das Gebäude unter den verschiedenen Verwendungen während der Kriegszeit arg gelitten hat, wurde daher in Erwägung gezogen, ob es nicht vorteilhafter wäre, einen Besitz außerhalb des Stadtgebietes anzukaufen. Damit könnte ein Pflanzgarten verbunden werden. Ein solcher Besitz hat sich in dem der Stadtgemeinde Klagenfurt gehörigen Gute Schönhof bei Annabichl gefunden. Die Gemeinde Klagenfurt ist bereit, ihn dem Verein um 70.000 K [34.615 EUR] zu überlassen. Für die Einrichtung der Schule dürften weitere 70.000 K erforderlich sein […] Die Landtagsabgeordneten hätten im Landtage die Unterstützung der Schule anzustreben, die Stadtgemeinde könnte ihre Waldungen als Lehrforste erklären. Sie würden unter die Aufsicht der Schule gestellt werden. Der Antrag auf Ankauf des Gutes Schönhof unter den von der Gemeinde gestellten Bedingungen wurde angenommen."
Aus dem Kauf des Gutes Schönhofs wurde letztendlich nichts, da der Bedarf nach Forstschulen in der 1918 neu gegründeten Republik durch bereits bestehende Anstalten gedeckt war. Außerdem benötigte die Stadt Klagenfurt den Grund des Guts für die Erweiterung des Friedhofs in Annabichl sowie für Wohnbau. Heute hat der Kärntner Forstverein seinen Sitz in Schloss Mageregg, unweit des ehemaligen Gutes Schönhof.
Der damalige Vorsitzende des Kärntner Forstvereins Arthur Lemisch war großdeutsch gesinnt, wurde nach dem Zusammenbruch der Monarchie erster "Landesverweser" Kärntens und war 1919 Mitbegründer des Landbundes. Von 1927 bis 1931 übernahm er noch einmal, diesmal als Landeshauptmann, eine Führungsrolle in der Kärntner Politik. Obzwar großdeutsch gesinnt, entwickelte Arthur Lemisch keine Sympathie für den Nationalsozialismus. Heute erinnert in vielen Orten Kärntens der jeweilige Dr.-Arthur-Lemisch-Platz an den ehemaligen "Landesverweser" und Landeshauptmann. Er verstarb 1953 in St. Veit an der Glan.
Link:
Der Kärntner Forstverein (Grazer Tagblatt vom 24. September 1918)
Der Tiroler gab am 25. September 1918 einen Einblick in die Gehälter von Künstlern an den großen Varietébühnen der Monarchie. Ein Minister der kaiserlichen Regierung erhielt damals umgerechnet (gemessen am Vorkriegswert der Krone) etwa 90.000,- Euro jährlich. Die großen Varieté-Stars erhielten dagegen monatliche Gagen von bis zu 100.000,- Euro, während an den großen Bühnen auch weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler nicht unter 16.000,- Euro im Monat ausstiegen:
"Wenn ein Schauspieler oder Sänger 500, 1000, 1800 oder gar 2000 Kronen monatlich bekommt, dann staunen Bürger und Beamte. Was bekommt aber ein Künstler im Varieteetheater? Direktor Dorn vom Ronacher in Wien antwortet darauf: Keine Gage unter 3000 Kronen monatlich, die meisten aber 3000, 6000, 10 000 Kronen! Grete Wiesenthal erhält 13 000 Kr. im Monat, die Schwestern Wiesenthal bekommen dieselbe Gage, der Mimiker Matrei 15 000 Kronen, die Mizzi Günther 18 000 und Louis Treumann 12 000 Kronen. – Ein Minister mit seinen 16 000 Kronen jährlich ist dagegen ein armer Schlucker!"
Die Namen der "Stars" der untergehenden Monarchie und der Ersten Republik, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts quasi österreichische "household names" waren, die jeder kannte, sind heute fast vergessen:
Grete Wiesenthal war eine begnadete Tänzerin an der Wiener Hofoper, die gemeinsam mit ihren Schwestern eine unabhängige Tanzgruppe bildete, die durch ganz Europa tourte. Wiesenthal, die während des Nationalsozialismus verfolgte Künstlerkollegen in ihrer Wohnung Unterschlupf gewährte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 Leiterin der Tanzabteilung der Akademie für Musik und Bildende Kunst in Wien, inszenierte bei den Salzburger Festspielen und wirkte als Choreographin und Tanzpädagogin. Die Wiesenthalgasse in Wien-Favoriten erinnert an die 1970 verstorbene Künstlerin.
Der "Mimiker Matrei", eigentlich Ernst Matray aus Budapest, wurde 1907 von Max Reinhard entdeckt und spielte vor allem skurrile Rollen. Während des Ersten Weltkriegs trat er als Grotesktänzer in verschiedenen Filmkomödien auf. Matray arbeitete eng mit dem Regisseur Ernst Lubitsch zusammen und folgte diesem 1933 als Choreograph und Regisseur nach Hollywood, wo er nach vielen produktiven Jahren 1978 verstarb.
Die Operetten-Soubrette Mizzi Günther, die mit dem Burgschauspieler Fed Hennings verheiratet war, galt als die führende Operettensängerin Wiens. Noch im Alter von 76 Jahren trat sie an der Wiener Volksoper in "Die lustige Witwe" auf. An die 1961 verstorbene Schauspielerin erinnert heute der Mizzi-Günther-Weg in Wien-Floridsdorf.
Mizzi Günthers Bühnenpartner Louis Treumann, ursprünglich Alois Pollitzer, hatte ein weniger glückliches Schicksal. Der Frauenschwarm Treumann war wie Mizzi Günther ein gefeierter Lehar-Interpret und feierte seinen internationalen Durchbruch 1905 in der Rolle des "Danilo" bei der Weltpremiere der Operette "Die lustige Witwe" am Theater an der Wien. Während des Nationalsozialismus versuchten berühmte Schauspielerkollegen (darunter auch Theo Lingen) ihre schützende Hand über Louis Treumann und dessen Ehefrau zu halten, die beide jüdischer Herkunft waren. Auch Franz Lehar setzte sich vergeblich für die Treumanns ein. Das Ehepaar wurde 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo Stefanie Treumann nach nur 2 Monaten verstarb. Der 70-jährige Louis Treumann folgte ihr ein knappes Jahr später. 1955 wurde zur Erinnerung an Louis Treumann die Girardigasse im 13. Wiener Gemeindebezirk in Treumanngasse umbenannt (an Alexander Girardi erinnert seit damals eine Gasse in Wien-Mariahilf unweit des Theaters an der Wien, dem Girardi 22 Jahre lang als Schauspieler die Treue gehalten hatte).
Links:
Was Varieteekünstler verdienen! (Der Tiroler vom 25. September 1918)
Weiterlesen: Historischer Währungsrechner der Österreichischen Nationalbank
Heute vor 100 Jahren: Die "Stars" von damals:
23. September 1918: Toni Girardi
21. Juli 1918: Betty Fischer
25. Mai 1918: Franz Lehar im Film
28. April 1918: Alexander Girardi (Todestag)
20. April 1918: Alexander Girardi (der erste Burgtheaterauftritt)
18. April 1918: Louise Kartousch
13. Dezember 1917: Richard Strauß, Selma Kurz und Leo Slezak
10. November 1917: Mimi Kött
10. Oktober 1917: Traute Carlsen und Karl Forest
27. September 1917: Thea Rosenquist
4. September 1917: Alexander Moissi
Mit einem verhalten-sarkastischen Unterton berichtete Die Neue Zeitung am 26. September 1918 über die Pläne der österreichisch-ungarischen Nationalbank den Banknotendruck, der sich seit Kriegsbeginn laut Auskunft der Bank bereits verzwölffacht hatte, noch weiter zu steigern. Dafür wurden allerdings zusätzliche Räumlichkeiten für neue Banknotenpressen benötigt. Da die Nationalbank im "Palais Ferstel" auf der Wiener Freyung untergebracht war, sollte die Erweiterung der Notenpresse in dem schon damals als Einkaufspassage genutzten Durchgang zwischen der Herrengasse und der Freyung entstehen:
"Zu diesem Zwecke sollen nicht nur die Geschäftslokale, sondern auch der Durchgang des sogenannten Bankbasars von der Freyung zur Herrengasse herangezogen werden. Allen im Basargebäude etablierten Geschäftsleuten steht zum nächsten Viertel die Kündigung bevor. Nur das prächtige 'Café Central' wird belassen. Jenen Geschäftsinhabern, welche eine vorzeitige Räumung vornehmen, wird ein entsprechendes Ablösegeld zugestanden. Den glasgedeckten Durchgang mit dem sehenswerten Bronzebrunnen von Fernkorn will man vermauern und in eine Halle zur Aufstellung der Banknotenpressen umwandeln. Erst nach Kriegschluß soll der öffentliche Durchgang wiederhergestellt werden. Hoffentlich haben wir bis dahin genügend Banknoten."
Die dramatischen Entwicklungen, die wenige Wochen später zum Untergang der Monarchie führen sollten, verhinderten allerdings die Umsetzung dieser Pläne. Die Nationalbank residierte nach dem Krieg noch einige Jahre in der Wiener Innenstadt, und übersiedelte 1925 in das bis heute als Zentrale der Bank dienende Gebäude in der Alserstraße. Das Palais Ferstel wurde an private Investoren verkauft.
Links:
Die Ausmietungen im Bankbasar auf der Freyung (Die Neue Zeitung vom 26. September 1918)
Heute vor 100 Jahren: Der Gelddiebstahl in der österreichisch-ungarischen Nationalbank (20. März 1918)
Weiterlesen: Das Geheimnis des Bankbasars (Kleine Volks-Zeitung vom 22. November 1931)
Weiterlesen: Von unseren alten Straßen. Die Herrengasse (Neues Wiener Tagblatt vom 8. Mai 1923)
Am 27. September fanden die Grazer Erstaufführung zweier Stummfilme statt. In der Verwechslungskomödie "Baldrian Sanftmuts Schicksalstage" war die populäre Grete Weixler zu sehen, die ansonsten eher für das ernste Fach bekannt war, und in dem Drama um ein krankes Kind mit dem Titel "Der Wille zum Leben" brillierte Lo Vallis, die zwischen 1910 und 1920 eine kurze aber intensive Filmkarriere machte. Die Grazer Mittags-Zeitung berichtete:
"Der größte Erfolg auf der Wiener Herbstfilmbörse war das dreiaktige Lustspiel 'Baldrian Sanftmuts Schicksalstage' mit Grete Weixler und Lo Vallis. Jedes Bild reizt die Lachlust des Publikums, so daß ununterbrochene Heiterkeit während der Vorführung dieses launigen Werkes herrscht. Die Leitung der städtischen Lichtspiele bringt dieses Werk heute zur Grazer Erstaufführung und läßt es, im Hinblick auf den sicheren Publikumserfolg, durch eine ganze Woche hindurch spielen. Sie hat sich für dieses Programm auch eine zweite Erstaufführung gesichert, und zwar die des spannenden Schauspiels 'Der Wille zum Leben'. Ein Einblick in das Kriegsleben auf dem Meere gewährt die Bilderreihe 'Alarm an Bord eines kleinen Kreuzers'. Sonntag um 2 Uhr nachmittags wird die Reihe der Jugend- und Familienvorstellungen eröffnet. Im Interessen-Mittelpunkt steht das Filmwerk 'Hans Trutz im Schlaraffenland'. Die Mitwirkung Paul Wegeners, Ernst Lubitsch's und Lyda Salmonowa sichern eine glänzende Darstellung. Um halb 5 Uhr findet eine Vorstellung mit dem oben genannten Programme statt."
Die Filmvorführungen fanden wohl im 1910 erbauten Grazer Union-Theater in der Annenstraße 34 statt, das einem traditionellen Theaterbau ähnelte und sich selbst als das "schönste Kino der Monarchie" bezeichnete. Das ursprünglich als Edison Theater benannte Kino wurde während des Zweiten Weltkriegs durch einen Bombentreffer zerstört. In einem nach 1945 errichteten Neubau setzte das mittlerweile in Union Kino umbenannte Lichtspielhaus den Filmbetrieb bis 1975 fort.
Links:
Theater-Kino (Grazer Mittags-Zeitung vom 27. September 1918)
Weiterlesen: Baldrian Sanftmuts Schicksalstage (Handlung)
Weiterlesen: Der Wille zum Leben (Handlung)
Weiterlesen: Filmzauber (Sport und Salon, Sondernummer vom 1. Dezember 1918)
Weiterlesen: Historisches Bildmaterial der Grazer Annenstraße
Weiterlesen: Zwanzigste Reihe Mitte, Hut frei bitte!
"Küss die Hand!" Diesen Ausspruch, der gemeinhin als besonders charmant und höflich gilt, verbindet man unweigerlich mit Wien. Der Begriff lässt sich auf den Brauch zurückführen, den Ring eines hohen Geistlichen oder Adeligen als Ehrenbezeugung zu küssen. Allerdings forderte die in Wien erscheinende Neue Zeitung am 27. September "Weg mit dem Küß die Hand!":
"Ja, das bis zum Ekel angewandte 'Küß die Hand' muß aus dem deutschen Sprachgebrauch verschwinden. Hier in Wien grassiert es in besonders hohem Grade und ist nicht nur als Begrüßungsformel Damen gegenüber gang und gäbe, sondern hat insofern eine keineswegs erfreuliche Erweiterung erfahren, als Großeltern und andere nahe Verwandte mit 'Küß die Hand' begrüßt werden, ja sogar 'Küß die Hand' als Dankesformel für eine erwiesene Gefälligkeit oder eine erhaltene Spende gilt […] Der bekannte Wiener Lokalchronist Wilhelm Kisch schreibt in seinem Werke in dem Abschnitt: 'Ein Zeit- und Sittenbild' um 1794 bis 1810, daß zu diesem Zeitabschnitt mit der Aenderung in der Tracht und Kleidung sich auch in Wien die gesellschaftlichen Verhältnisse änderten. Das 'Zierliche und Umständliche', wie es damals in Wien üblich war, verschwand und an seine Stelle trat das Einfache und Natürliche. Die Höflichkeitsbezeigungen und Begrüßungen wurden einfacher, die Umgangsformen gingen auf ein gewöhnliches Maß zurück und selbst die früher gepflogene Galanterie gegen Damen verlor ihre bisherige Ueberschwänglichkeit. Nur das Händeküssen hatte sich in Wien noch erhalten, während man sich in Deutschland mit dieser Form der Damenhuldigung nur lächerlich machte. Aus dieser sozusagen körperlichen Begrüßung ist nun im Laufe der Zeit eine gesprochene Floskel geworden. Küß die Hand da, küß die Hand dort!"
Heutzutage wird der Ausspruch kaum noch verwendet, und auch in Wien verschwindet er zunehmend als altmodisches Symbol einer überkommen Etikette aus der Umgangssprache.
Link:
Weg mit dem "Küß die Hand!" (Die Neue Zeitung vom 28. September 1918)