Die Website zum Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 wird nicht mehr aktualisiert, steht aber bis auf weiteres als Nachlese zur Verfügung.
Seitenpfad
Ihre Position: Oesterreich100.at - Von Tag zu Tag 1917 bis 1919
Inhalt

Von Tag zu Tag 1917 bis 1919

Die Henning'schen Gesichtsprothesen
"Die Henning’schen Gesichtsprothesen: (Oben): Starker Nasen, und Augendefekt infolge Explosionsgeschoßes und deren Ersatz durch Prothesen. (Unten): Totaler Defekt der Ohrmuschel und Behebung desselben durch eine vollständige Ohrprothese"; © Wiener Bilder vom 29. September 1918

Die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs mit neuartigen Waffen führten zu zahlreichen Verletzungen, die Ärzte vor große Probleme stellten. Die durch Kanonen, Maschinengewehre und Granaten verursachten Verletzungen entstellten die Personen oft extrem. Um diese wieder ein halbwegs "normales" Leben zu ermöglichen wurden viel Zeit und Geld in die Prothetik investiert. In der Zeitung Wiener Bilder vom 29. September 1918 wurde beispielsweise die Henning-Gesichtsprothesen vorgestellt, die aus einer Mischung aus Gelatine und Glyzerin bestanden:

"Auf dem Kongreß für Kriegsbeschädigtenfürsorge, welcher vom 16. bis 19 September im Sitzungssaale der Aerztekammer stattfand, demonstrierte Leutnant i.d.R. Theodor Henning, prov. Leiter des k.k. Universitäts-Institutes für Moulage, in der Generalversammlung des Vereines ‚Die Technik für die Kriegsinvaliden‘ sieben Kriegsverletzte, denen er durch künstlerische Deckung ihres verunstaltenden Defektes – Verlust von Nase, Auge, Ohr – ihr früheres Aussehen und damit die Vorbedingung für Arbeitsmöglichkeit und Lebensfreude wiedergegeben hatte […] Die Henning Prothese ist hautähnlich, elastisch, folgt den mimischen Bewegungen und entspricht infolge dieser Eigenschaften allen kosmetischen Anforderungen. Jeder Patient bekommt sein Gußmodell mit und erneuert sich das Ersatzstück selbst nach Bedarf."

Link:
Die Henning-Gesichtsprothese (Wiener Bilder vom 29. September 1918)

Spendenmarke der offiziellen Kriegsfürsorge: Frau an einer Nähmaschine
Spendenmarke der offiziellen Kriegsfürsorge: Frau an einer Nähmaschine mit spielenden Kindern, darüber ein weißer Engel, um 1916; © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

In dem mit Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg verbündeten Deutschen Reich wurde 1918 über die Einführung eines Verbots des Hausierens, also der Haustürverkauf durch reisende Vertreter, insbesondere der Nähmaschinenverkäufer, diskutiert. Dieses Vorhaben stieß auch in der Österreichische Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung am 30. September 1918 auf große Zustimmung, da reisende Nähmaschinenhändler offenbar auch in Österreich-Ungarn immer wieder Probleme bereiteten:

"Die Vorsteherin einer Nähschule in einer benachbarten Ortschaft besuchte uns nach längerer Abwesenheit wieder. Unter Tränen gestand sie uns, daß sie einem Schwindler aufgesessen sei. Sie habe sich verleiten lassen und habe von diesem Schwindler zwei Nähmaschinen für ihre Lehrmädchen gekauft; nicht nur daß sie mit den beiden Maschinen gar nicht zufrieden sei, das viel Schlimmere sei noch, er habe ihr die Heirat versprochen. Die Arme bekräftigte ihre Aussage mit einigen Liebesbriefen an der Hand, sie habe sich wegen dieser Liebe mit ihrer Schwester und ihrer Mutter entzweit und nun bekomme sie ihren Zukünftigen gar nicht mehr zu sehen und auch kein Lebenszeichen von ihm; wir möchten ihr doch einen väterlichen Rat erteilen. Aber hierzu war es leider zu spät."

Heute werden Haustürgeschäfte in Österreich formal als "Auswärtsgeschäfte" oder "Außergeschäftsraumverträge" bezeichnet und beziehen sich auf (Kauf-)Vertragsabschlüsse außerhalb der Geschäftsräume des jeweiligen Unternehmens. Mit wenigen Ausnahmen können Konsumentinnen und Konsumenten innerhalb von 14 Tagen von solchen Geschäften zurücktreten.

Links:
Gegen das Hausieren (Österreichische Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung vom 30. September 1918) 
Weiterlesen: Rücktrittsrecht bei Auswärtsgeschäften (PDF, Sozialministerium)

Carl Harko Johannes Hermann von Noorden, auch Karl von Noorden
Carl Harko Johannes Hermann von Noorden, auch Karl von Noorden; © Illustriertes Österreichisches Journal vom 1. Oktober 1918

Aus Anlass seines 60. Geburtstags gratulierte das Illustrierte Österreichische Journal dem berühmten Mediziner Karl von Noorden und nahm dabei Bezug auf sein Wirken an der Universität Wien:

"Hofrat Karl v. Noorden beging seinen sechzigsten Geburtstag. Er ist in Wien noch in guter Erinnerung und sein Scheiden von der Universität wurde als Verlust empfunden. Trotzdem v. Noorden nur sieben Jahre als Nachfolger Nothnagels wirkte, war die Tätigkeit einer so eigenartigen Persönlichkeit doch speziell für Wien eine sehr fruchtbare und hat dauernde Wahrzeichen hinterlassen. Seine Klinik war einer der Brennpunkte medizinischen Lebens. Von dem Arbeitsdrang, der an ihr herrschte, legt die Tatsache Zeugnis ab, daß in der genannten Zeit über 320 Arbeiten aus ihr erschienen sind, gewiß nicht alle gleichwertig, aber sehr viele doch von dauernder Bedeutung. Die lichtdurchflutete erste medizinische Klinik, deren Neubau sich nach Noordens Plänen vollzog, ist eine so vollkommene und in allen Einzelheiten so zweckmäßige und wohldurchdachte Anstalt, daß sie noch auf Generationen hinaus ein Vorbild bleiben wird. Viele Leidende werden sich auch in den Sanatoriumsabteilungen, deren Einrichtung für diätetische Behandlung sich an seinen Namen knüpft, dankbar seiner erinnern. Zur Neuordnung des Krankenpflegewesens im Allgemeinen Krankenhause durch Gründung des Schwesterinstituts hat er Anlaß gegeben."

Karl von Noorden kam 1858 in Bonn zur Welt, studierte in Tübingen, Freiburg im Breisgau und in Leipzig. Er widmete sich vor allem stoffwechselpathologischen Studien und galt als der führende Diabetes-Experte. 1906 wurde Noorden als Nachfolger Hermann Nothnagels als Ordinarius und Vorstand der Ersten Medizinischen Universitäts-Klinik des Allgemeinen Krankenhauses nach Wien berufen. Nach Ablauf seines Vertrags arbeitete Noorden an einer Privatklinik in Frankfurt am Main, um 1929 nach Wien zurückzukehren, wo er die Leitung Abteilung für Stoffwechselerkrankungen und der Diätküche im Lainzer Krankenhaus übernahm. 1932 erhielt er die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien. Noorden, der mit seiner Familie in der Döblinger Billrothstraße 54 lebte, war bis ins hohe Alter als Arzt aktiv. Er verstarb im Oktober 1944.

Link:
Hofrat v. Noorden (Illustriertes Österreichisches Journal vom 1. Oktober 1918)

Italienische Kriegsgefangene in Österreich
"Wie es den Feinden bei uns ergeht" (italienische Kriegsgefangene in einem österreichischen Lager); © Neuigkeits-Welt-Blatt vom 2. Oktober 1918

Am 2. Oktober 1918 berichtete das Neuigkeits-Welt-Blatt von einem Lager für italienische Kriegsgefangene und darüber wie gut die österreichisch-ungarischen Behörden diese Gefangenen behandle. Anderslautende Behauptungen, so die österreichische Militärpropaganda, wären Falschmeldungen, insbesondere solche aus den Ländern der Kriegsgegner:

"Eines der meist verwendeten Propagandamitteln in den Ententeländern sind die wiederholt gekennzeichneten Lügen, die über die Verpflegung feindlicher Kriegsgefangener in den Gefangenenlagern der Mittelmächte verbreitet werden. Es kursieren in dieser Hinsicht die unglaublichsten Gerüchte, bei deren Lektüre man glauben könnte, daß die in solchen Lagern Internierten ein wahres Martyrium durchzumachen haben und daß ihr ganzes Leben eine Kette von unerträglichen Leiden und Beschwerden bilde. Diese, in tendenziöser Weise verbreiteten, bewußt unwahren Nachrichten werden in den Ententeländern nur zu gern geglaubt, da ja die öffentliche Meinung über die Moral in Oesterreich-Ungarn und Deutschland schon seit langer Zeit planmäßig vergiftet wurde und demgemäß solche Lügen leider auf unfruchtbaren Boden fallen. Demgegenüber gibt es kein besseres Mittel, als an der Hand photographischer Aufnahmen den Beweis zu erbringen, wie sich eigentlich das Leben und Treiben in einem solchen Kriegsgefangenenlager abspielt, und unser heutiges Titelbild zeigt nach Aufnahmen der Lichtbildstelle des Kriegspressequartiers Szenen in einem derartigen Aufenthaltsort von Italienern in unsrer Monarchie. Das Hauptbild läßt uns einen Blick in die Lagerkirche tun, wo eben die Kriegsgefangenen einem Gottesdienst beiwohnen, und das kleinere Bild veranschaulicht eine Probe des Lager-Orchesters, ein Beweis dafür, daß die Gefangenen sogar auf musikalische Genüsse nicht zu verzichten brauchen. Wir, die wir wissen, wie es den Feinden bei uns ergeht, könnten nur wünschen, daß in den Entente-Staaten ebenso für die Kriegsgefangenen gesorgt werden möge wie bei uns."

Tatsächlich war die Situation für die Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn aber extrem schlecht. Der Großteil der Gefangenen, ausgenommen Offiziere, wurde zur Zwangsarbeit eingesetzt, war einer verheerenden Unterernährung ausgesetzt und dadurch sehr anfällig für Krankheiten. Allerdings waren alle kriegführenden Länder mit der Masse an Kriegsgefangenen überfordert; besonders Russland hatte mit der Versorgung der Kriegsgefangenen große Probleme. Der Kriegsgefangenenaustausch, der während des Krieges im Westen über die neutrale Schweiz und im Osten über das neutrale Schweden abgewickelt wurde, war eine der Maßnahmen, um die Anzahl der zu versorgenden Gefangenen hüben wie drüben zu verringern.

Links:
Wie es den Feinden bei uns ergeht (Neuigkeits-Welt-Blatt vom 2. Oktober 1918)
Heute vor 100 Jahren: Der Austausch von Kriegsgefangenen  (16. November 1917)
Weiterlesen: Der Mythos von der besseren Gefangenschaft

Elise Elizza (in ihrer letzten Rolle an der Hofoper als Aida)
Elise Elizza (in ihrer letzten Rolle an der Hofoper als Aida), 1912; © Das interessante Blatt vom 3. Oktober 1918

Am 3. Oktober 1918 berichtete Das interessante Blatt von dem für ihre zahlreichen Verehrer betrüblichen Abgang der Sopranistin Elise Elizzas von der Wiener Hofoper:

"Nach einer 23jährigen Mitgliedschaft an der Hofbühne tritt Frau Elise Elizza aus diesem Verbande. Ein Sopran von seltener Technik und Schönheit, verfügte die Künstlerin auch über eine außerordentliche Begabung, die sie befähigte, auch unvorbereitet für (höhergestellte) Kolleginnen 'einzuspringen', und die von der Leitung auch immer wieder ausgenützt wurde."

Die 1868 in Wien geborene Elise Elizza, eigentlich Elisabeth Letztergroschen, verheiratete Elisabeth Limley, begann ihre Karriere als Operettensoubrette am volkstümlichen Wiener Carltheater in der Nähe des Praters. Nach Engagements in Olmütz und Graz ging sie 1895 an die Wiener Hofoper, dessen Ensemble sie bis 1918 angehörte. Neben ihren Bühnenrollen war Elizza auch eine frühe und aktive Studiosängerin, wie zahlreiche Tonaufnahmen belegen. Nach ihrem Rückzug von der Bühne wirkte Elizza als Gesangspädagogin am Wiener Konservatorium; unter ihren Schülerinnen waren unter anderem Lotte Lehmann und Betty Fischer.

Elise Elizza starb 1926 an den Folgen einer Operation und wurde am Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab der israelitischen Kultusgemeinde zwischen dem Operettenkomponisten Leo Fall und dem Pianisten Julius Epstein beigesetzt, die beide wenige Monate zuvor verstorben waren. Der Andrang der Wiener Bevölkerung bei Elizzas Begräbnis war so groß, dass sogar die Zeremonienhalle des Zentralfriedhofs polizeilich geschlossen werden musste, wie das Neue Wiener Journal am 7. Juni 1926 berichtete. Elizzas Grabstein ziert ein Kupferrelief der Wiener Staatsoper mt dem Spruch "Nur der Schönheit weiht' ich mein Leben."

Links:
Hofoper (Das interessante Blatt vom 3. Oktober 1918)
Heute vor 100 Jahren: Betty Fischer (21. Juli 1918)
Weiterlesen: Teestunde bei Elise Elizza (Nachruf im Neuen Wiener Journal vom 5. Juni 1926)
Weiterlesen: Elise Elizza singt "Euch Lüften" aus Richard Wagners "Lohengrin" (Tondokument aus dem Jahr 1909)

Die Taborstraße in Wien Leopoldstadt um 1913
Die Taborstraße in Wien Leopoldstadt um 1913, rechts befindet sich Nummer 8 (um 1914 durch einen Neubau ersetzt) und links, etwa auf der Höhe des Mauervorsprungs, befand sich auf Nummer 13 das Café International; © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

Das Kaffeehaus gilt als eine typische Wiener Institution und zweites Wohnzimmer der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner. Während des Ersten Weltkriegs entdeckten Schleichhändler das Café als idealen Ort für ihre illegalen Geschäfte. Am 4. Oktober 1918 berichtete das Fremden-Blatt unter dem Titel "Café Schleichhandel" von Razzien in 2 Cafés in der Wiener Leopoldstadt:

"In der abgelaufenen Woche wurden die in der Taborstraße gelegenen Kaffeehäuser 'Zentral' und 'International' von Organen des Kriegswucheramtes revidiert und 23 des Schleichhandels verdächtige Individuen in Verwahrungshaft genommen […] Kennzeichnend ist die Anhaltung einer Militärperson in einem dieser Kaffeehäuser, die dasselbe nur zum Zwecke des Broteinkaufes besucht hatte, da ihr von vielen Seiten versichert worden war, daß man in diesen Lokalen Brot in beliebiger Menge erhalten könne. Tatsächlich hatte der Soldat kurz vor der Streifung im Café 'International' von der Privaten Adele Waldmann einen Laib Brod um 10 Kronen erstanden. Ein anderer Kaffeehausgast namens Maier Bittermann und derzeit beschäftigungslos, der aus dem entfernten 16. Bezirk das Café 'International' aufgesucht hat, hatte sich im Laufe der letzten Zeit sukzessive eine größere Quantität Kümmel aus Galizien schicken lassen, den er im genannten Kaffeehause zu Schleichhandelspreisen veräußerte. Daß auch Zwirn in größeren Mengen in diesen Kaffeehäusern verhandelt wurde, beweist die Verhaftung des Hilfsarbeiters David Gottesmann, der eine größere Menge dieses derzeit so seltenen Artikels an einen noch nicht eruierten Kaffeehausgast verkauft hatte. Dieser Zwirn stammt von dem Schützen Benno Kirsch, der die Ware auf offener Straße im 2. Bezirk von einem dort herumlaufenden Individuum erstanden hatte."

Das eher übelbeleumundete Café International in der Taborstraße 13 an der Ecke zur Negerlegasse, in dem regelmäßig Razzien stattfanden, musste knapp nach dem Ersten Weltkrieg schließen. Heute befindet sich hier ein Neubau. Das "Zentral" lebt aber bis heute an seiner Adresse auf Nummer 8 als elegantes "Hotel City-Central" weiter.

Link:
Razzia im Café Schleichhandel (Fremden-Blatt vom 4. Oktober 1918)

Karikatur über die Lebensmittelnot in der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie
"Der eine Knabe lebt jenseits der Leitha Und wird darum von Tag zu Tag breita. Der and're Knabe 'lebt' unter der Enns Und ist d'rum ganz herunt' als Existenz." © Kikeriki vom 15. September 1918

Die landwirtschaftlich geprägte ungarische Reichshälfte der Monarchie konnte sich während des Weltkriegs besser mit Lebensmitteln versorgen als die österreichische und versuchte Lebensmittelschmuggel über die innerstaatliche Grenze entlang des Flußes Leitha nach Niederösterreich (damals "Österreich unter der Enns") mit allen Mitteln zu verhindern. Im heute burgenländischen Bad Sauerbrunn kam es sogar zu einem tragischen Todesfall als ein 13jähriger Bub, der einen Sack Mehl bei sich hatte, vom Dach eines Eisenbahnwaggons stürzte, wo er sich vor der ungarischen Zollwache verstecken wollte.

Von einem ähnlichen Fall aus dem damals ungarischen Rétfalu (heute Wiesen im Burgenland) berichtete die Salzburger Wacht am 5. Oktober 1918:

"…und schon wieder wird ein ähnlicher Fall aus Wiesen, der Station hinter Sauerbrunn, gemeldet. Letzten Freitag nachmittags suchte ein siebzehnjähriger Bursche, der fünf Kilogramm Mehl auf dem Rücken unter seinem Ueberzieher verborgen hatte, der Grenzpolizei dadurch zu entgehen, daß er auf das Dach eines Bahnwagens sprang. Doch der Grenzgendarm lief ihm auf das Dach nach. Der Bursche lief über die Stiege hinunter, dann wieder auf das Dach des nächsten Wagens, und so ging die lebensgefährliche Jagd fort über die Dächer des ganzen Zuges, bis der Bursche vor Müdigkeit zusammenbrach. Damit fand die Hetzjagd ihr Ende. Der Gendarm holte den Burschen vom Dache herunter und nahm ihm das Mehl weg."

Allerdings waren die kriegsmüden und von Hungersnot geplagten Augenzeugen ganz und gar nicht auf Seiten des Gendarmen:

"Die das sahen, waren über den Gendarmen, der das Leben des jungen Burschen, der gewiß kein Schleichhändler war, gefährdete, sehr empört, begnügten sich aber mit Pfuirufen."

Links:
Eine Jagd nach dem ungarischen Mehl (Salzburger Wacht vom 5. Oktober) 
Heute vor 100 Jahren: Beim "Hamstern" ertappt (28. Mai 1918)
Heute vor 100 Jahren: Die Lebensmittelkrise in der cisleithanischen Reichshälfte der Monarchie (6. Jänner 1918)

Motorradrennen: Erzherzog Leopold passiert die Haarnadelkurve auf der Exelbergstraße
"Erzherzog Leopold passiert die Haarnadelkurve auf der Exelbergstraße"; © Das Illustrierte Sportblatt vom 1. November 1918

Nach mehreren Jahren Pause fand am 6. Oktober 1918 das Exelberg-Motorradrennen nahe der Wiener Stadtgrenze wieder statt. Über das Rennen, das bei schönem Herbstwetter im nördlichen Wienerwald stattfand, berichtete das Neue Wiener Tagblatt:

"Das herrliche Herbstwetter begünstigte die Veranstaltung ungemein. Alle Aussichtspunkte der vier Kilometer langen Exelbergstrecke waren dicht besetzt. Das Regenwetter der letzten Tage machte sich nur in dem unteren Teil der Exelstraße etwas geltend, denn etwa einem halben Kilometer nach dem Startpunkt war die Straße noch naß und kotig, je höher es aber ging, desto besser war die Straßenoberflache und gestattete ungehinderte Fahrt. Seit dem Jahre 1910 hat auf dem Exelberg kein Motorradrennen mehr stattgefunden und die lange Pause hatte die interessierten Kreise sichtlich ausgehungert. Es wurde nämlich den Motorradrennen gestern weitaus mehr Interesse entgegengebracht als den Radkonkurrenzen. Die beste Zeit des Tages erzielte Ludwig Lutter mit der von ihm gesteuerten 3.8 PS Moto-Reve-Maschine in der Kategorie der Motorräder bis 500 Kubikzentimeter Zylinderinhalt. Lutter, der vor dem Kriege zu unsern erfolgreichen Motorradrennfahrern zählte, legte die vier Kilometer lange Rennstrecke in 5 Minuten 11.4 Sekunden zurück und gewann damit nicht nur den ersten Preis seiner Klasse, sondern auch den für die beste Zeit des Tages ausgesetzten Spezialehrenpreis […] Erzherzog Anton siegte auf seiner 7.8 PS Indian-Maschine in der Kategorie der Motorräder ohne Beschränkung des Zylinderinhaltes und der Motorenstärke. Er erzielte mit 5 Minuten 26 Sek. die beste Zeit dieser Klasse. Erzherzog Leopold wurde mit seiner 7.6 PS Neckarsulm-Maschine nur um fünf Zehntelsekunden hinter Erzherzog Anton Zweiter; er rutschte mit seiner Maschine in einer der ersten Kurven infolge des nassen Bodens und konnte die hiedurch verlorene Zeit in Anbetracht der kurzen Strecke nicht mehr einbringen."

Die Sieger-Maschine war ein Schweizer Fabrikat aus Genf, und stammte aus dem zum damaligen Zeitpunkt modernsten Motorradwerk. Moto-Rêve ("Motor-Traum" oder "Traum-Motorrad") gehörte zu den führenden Motoren- und Motorradherstellern Europas und existierte von 1905 bis 1925.

Die bis heute unter Motorradfahrern beliebte kurvige Strecke über den Exelberg führt von niederösterreichischen Tulbing im Bezirk Tulln nach Wien-Neuwaldegg. Immer wieder kommt es hier zu schweren Motorradunfällen, die durchschnittlich zwei Todesopfer pro Jahr fordern.

Links:
Motorrad Exelberg-Rennen (Neues Wiener Tagblatt vom 7. Oktober 1918)
Exelberg-Rennen (Illustriertes österreichisches Sportblatt vom 1. November 1918)

Ein Tiroler Adler, der von der Schule in Igls (Tirol) als Symbol des verlorenen Deutsch-Südtirols bis zu dessen Befreiung gefangen gehalten wird
"Ein Tiroler Adler, der von der Schule in Igls (Tirol) als Symbol des verlorenen Deutsch-Südtirols bis zu dessen Befreiung gefangen gehalten wird“; © Das interessante Blatt vom 28. August 1919

Im Oktober 1918 spürte man bereits die drohenden politischen Umwälzungen. Allgemein wurde erwartet, dass es bald zu Friedensverhandlungen kommen werde. Insbesondere in Tirol wurden territoriale Veränderungen erwartet, und dass das italienische Trentino südlich der Salurner Klause, wenn schon nicht Teil des italienischen Königreichs, so doch eine autonome Region werden sollte. Der Allgemeiner Tiroler Anzeiger vom 7. Oktober 1918 analysierte die Situation, rief zur "Tiroler Vergatterung" auf und appellierte an die österreichisch-ungarischen Diplomatie:

"Man kann annehmen, daß in den nächsten Monaten das Schicksal Europas auf lange hinaus entschieden wird. Die militärischen Verhältnisse des Krieges haben sich soweit geklärt, daß nun die Verhandlungen einsetzen dürften. Für uns Tiroler ist dabei wichtig, daß unsere Heimat als Grenzland, zumal wegen seiner nationalen Doppelnatur eine besondere Rolle in den Verhandlungen spielen wird. Die Entente wird Welschtirol ‚erlösen‘ wollen und Italien wird große Anstrengungen machen, um über die nationalen Grenzen hinaus den ‚natürlichen Abschluß‘ der Appeninen-Halbinsel, den Alpenkamm, zu erschachern, nachdem es ihn zu erkämpfen nicht imstande war. Es wird seine gierigen Finger auch nach dem Etsch- und Eisacktal und ihren Nebentälern ausstrecken. Wir hegen keinen Zweifel, daß die verfassungsmäßigen Vertreter Oesterreichs auf der Friedenskonferenz nicht vergessen werden, was sie des Ehre des Reiches und den hundertjährigen Opfern Tirols schuldig sind, wo die Linie ist, über die hinaus keine Nachgiebigkeit gehen kann. Aber im Rate der Welt gelten heute die Stimmen der Völker mehr als die Meinungen der Minister. Namentlich das Wort Tirols wird mehr Sympathien finden, als die Bemühungen des österreichischen Außenministers, eines Ungarn […] Bei der Entente herrscht die Meinung, die Welschtiroler hätten keinen heißeren Wunsch als den nach der Loslösung von Oesterreich. Und doch haben erst kürzlich die elf größten Gemeinden Welschtirols aus eigenem Antrieb ihre unbeirrte österreichische Gesinnung verkündet. Hier müssen unsere Diplomaten einsetzen. Unsere Landsleute unter Salurn haben allerdings einen großen, bisher unerfüllten Wunsch: den nach der Autonomie […] Alles kommt darauf an, daß unsere Politiker im Lande die Fühlung mit den Welschtirolern nicht verlieren und daß unsere Vertreter bei den Friedensverhandlungen neben der wünschenswerten Festigkeit auch die Gewandtheit besitzen, diese Gedanken wirkungvoll in die Debatte zu bringen. Völlig unzweifelhaft gilt das letztere von Deutschtirol, wenn Italien etwa daran rühren sollte. Wir haben einen Namen in der Welt und Freunde auch noch immer unter den Feinden der Mittelmächte. Wir werden bestimmt Gehör finden, wenn wir sagen werden: ‚Unser Tiroler Land und unser Tiroler Volk sind durch Jahrhunderte einer an Ehren und Leiden reichen Geschichte, durch eine wunderbar innige und starke Kultur zu einer untrennbaren Einheit verwachsen. Wir geben nichts her von unserem heiligen Boden!‘ So müssen wir sprechen. Bald und alle."

Tatsächlich sollte es aber ganz anders kommen…

Link:
Tiroler Vergatterung! (Allgemeiner Tiroler Anzeiger vom 7. Oktober 1918)
Veranstaltungshinweis: "14 Tage 1918 – Die Anfänge der Republik in Tirol in 53 Zeitungsausschnitten"
(Buchpräsentation am 23. Oktober 2018 um 19:00 im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck
Buchpräsentation am 14. November 2018 um 19:00 Uhr im Haus der Geschichte Österreich, Wien)

Remise Wien-Ottakring, Ansicht der Wagenhallen
Remise Wien-Ottakring, Ansicht der Wagenhallen um 1920; © Wiener Linien

Der am Montag dem 7. Oktober 1918 in Wien ausgebrochene Straßenbahnerstreik verschärfte sich am 8. Oktober. Die um eine Lohnerhöhung und bessere Lebensmittel- sowie Kleiderrationen kämpfenden Straßenbahner wurden auch von Passanten unterstützt, wie das Neue Wiener Tagblatt berichtete. Der Streik breitete sich auf zahlreiche Straßenbahnremisen aus, darunter diejenigen in Hernals, Ottakring, Breitensee, in der Brigittenau sowie in Grinzing und Floridsdorf aus, wobei sich das Zentrum des Streiks in der Werkstätte Rudolfsheim in der äußeren Mariahilferstraße befand. Dort rückte sogar Militär ein, um die 400 streikenden Rudolfsheimer Straßenbahnerinnen und Straßenbahner zur Wiederaufnahme der Arbeit zu zwingen (kriegsbedingt waren bei Wiener Straßenbahnen deutlich mehr Frauen als Männer beschäftigt):

"Die Streikbewegung breitet sich im allgemeinen ruhig aus. Doch kam es leider stellenweise, so zum Beispiel in der Brigittenau und auch in Favoriten, mehrmals zu Straßenexzessen. Auf der Klosterneuburgerstraße wollte ein 5er Wagen ausfahren. Streikende hielten ihn auf der Strecke auf, und fanden Unterstützung bei dem Publikum der Straße. Der Streit endigte damit, daß die Fahrgäste ausstiegen und der Wagen eingezogen wurde. Auch in Meidling kam es zu stürmischen Szenen. Dort wurde, wie uns berichtet wird, einem Motorführer die Kurbel weggenommen. Die Wache, die zu Fuß und zu Pferd in großer Zahl ausgerückt war, schritt ein und nahm Verhaftungen vor."

Die Situation beruhigte sich erst als sich der Wiener Bürgermeister Weiskirchner im Laufe des Tages zu Verhandlungen mit den Streikenden bereit erklärte.

Link:
Der Ausstand der Straßenbahner (Neues Wiener Tagblatt vom 8. Oktober 1918)
Heute vor 100 Jahren: Die Tramwaynot (3. August 1918)